: „Diese Demos sind sehr seltsam“
Agata, Sarah, Łukasz, Tabea
Normalerweise ist der 1. Mai in Kreuzberg ein Feld für Autonome, Türkenkids und Polizisten. Diesmal haben sich unter die Maifeiernden auch 60 Ethnologen aus Berlin und Warschau gemischt. Es war ein Blitzfeldversuch zum Thema Symbole und Rituale von Staatlichkeit und Widerstand. Vier von ihnen hat die taz in der Mainacht begleitet. Während die Berlinerinnen Tabea und Sarah den Adrenalinstoß spürten, der kurz vor dem Beginn der Scharmützel auftaucht, war Łukasz aus Warschau eher verwundert darüber, wie wenig ernsthaft in Berlin demonstriert wird. Nun werden die Ergebnisse mit den anderen Ethnologenteams zusammengetragen
INTERVIEW PLUTONIA PLARRE
taz: Tabea, Sarah, Agata und Łukasz, ihr seid den ganzen Samstag mit suchendem Blick durch Kreuzberg gewandert. Man hätte euch glatt für Krawalltouristen halten können.
Tabea: So haben wir uns manchmal auch fast gefühlt. Mehr als Akteur denn als Beobachter.
Was seid ihr denn nun?
Tabea: Wir sind Forscher. Genau gesagt sind wir polnische und deutsche Ethnologiestudenten. Im Rahmen einer viertägigen Konferenz in Berlin zum Thema Symbole und Rituale von Staatlichkeit und Widerstand hören wir uns nicht nur Vorträge an, sondern wir machen auch Workshops und Feldversuche.
Dauert ein Feldversuch normalerweise nicht Monate oder sogar Jahre?
Sarah: Dass man an einem Wochenende keine richtige ethnologische Forschung machen kann, ist natürlich klar. Wir probieren hier Elemente der von Sardan und Bierschenk entwickelten kollektiven Blitzforschung aus: die so genannte Ecris-Methode.
Tabea: Das sind ein französischer und ein deutscher Ethnologe. Sie haben das bei ihren Forschungen in Westafrika entwickelt. Es handelt sich um eine Methode für 20 Leute, die aus vielen Schritten besteht. Normalerweise geht man allein ins Feld.
Feldversuch – heißt das, mit dem Zooblick auf die Kreuzberger Subkultur schauen?
Tabea: Ziel der Ethnologie, wie ich sie verstehe, ist, so lange ins Feld zu gehen, bis man sich dort nicht mehr in der Fremde fühlt. Im besten Falle kann man dann die fremde Kultur sozusagen von innen heraus beschreiben.
Sarah: Das kann man bei einer Blitzforschung natürlich nicht leisten. Aber wir haben einige Erkenntnisse gewonnen, auf denen man aufbauen kann.
Welche waren das?
Sarah: Das ist ein ganz seltsames Phänomen. Eigentlich sagen alle, Gewalt ist Scheiße. Aber alle sind ganz angespannt und warten darauf, dass was passiert. Sobald jemand einen Stein wirft, rennen alle hin, gucken und wollen dabei sein. Es ist sehr interessant. Auch bei mir selbst habe ich beobachtet, dass ich auf den Adrenalinstoß warte.
Tabea: Bei den Interviews und Beobachtungen – die Ethnologen sagen dazu teilnehmende Beobachtung –, die wir Samstagnachmittag durchgeführt haben, haben wir Erstaunliches festgestellt. Die Medien haben im Vorfeld ja sehr viel darüber geschrieben, dass die türkischen Jugendlichen zu den Gruppen gehören, die Steine werfen.
Das stimmt doch.
Sarah: Polizisten von den Antikonfliktteams haben zu uns gesagt, dass das eher Leute sind, die von außen kommen. Die Polizisten haben die Presse deswegen wegen ihrer anderen Aussagen ziemlich stark kritisiert.
Tabea: In der Frage scheint es innerhalb der Polizei aber auch unterschiedliche Auffassungen zu geben. Zivilbeamte, die wir am frühen Abend am U-Bahnhof Kottbusser Tor gesprochen haben, haben gesagt, dass doch ein ganze Menge türkische Jugendliche unter den Steinwerfern seien. Bei der Gelegenheit haben wir beobachtet, wie eine Menge Migranten-Jugendlicher kontrolliert wurde und Platzverweise bekommen hat. Einige sind von der Polizei auch gleich mitgenommen worden. Die Jugendlichen waren ziemlich sauer, dass sie allein aufgrund ihrer Äußerlichkeit überprüft werden.
Wie empfindet ihr das?
Tabea: Ich kann verstehen, dass sich die Jugendlichen aufgrund ihrer Äußerlichkeit stigmatisiert fühlen. Rassismus ist ein Phänomen, mit dem sich Ethnologen aufgrund der Geschichte des Faches sehr auseinander setzen. Andererseits waren wir ja auch den ganzen Tag auf der Suche nach Jugendlichen mit schwarzen Haaren. Wir haben bei dem Feldversuch gemerkt, wie schwer es ist, sich von den eigenen Stereotypen zu distanzieren.
Wie haben eure Gesprächspartner auf euch reagiert?
Sarah: Mit einigen Jugendlichen war es nicht immer leicht ins Gespräch zu kommen, als wir uns als Studenten vorgestellt haben. Die haben uns zum Teil ziemlich verarscht oder uns als Ökos beschimpft. Die meisten, auch die Polizisten, waren in der Regel aber sehr freundlich. Wenn es um die Krawalle geht, scheint jeder seine eigene Theorie zu haben, die man gerne loswerden will.
Wie hat sich eure Zielgruppe verhalten, als die Krawalle losgingen?
Sarah: Es war eindeutig, dass eine Gruppe Autonomer die Initiative ergriffen hat. Es war eine kleine Gruppe von Vermummten, die rote Fahnen geschwenkt haben. Die Kids haben plötzlich alle zum Handy gegriffen und wild telefoniert. Plötzlich sind alle ganz wach geworden und hinterhergerannt. Erst mal um zu gucken, was passiert, und um vielleicht selbst aktiv zu werden.
Agata und Łukasz, wie ist es euch ergangen? Ihr sprecht kein Deutsch und musstet euch bei dem Feldversuch in Kreuzberg auf Englisch mit euren Interviewpartnern unterhalten.
Agata: Ich habe am Nachmittag mit Polizisten von den Antikonfliktteams gesprochen, mit einem Punk, der nichts sagen wollte, und mit zwei türkischen Migranten. Die sagten, die Polizei verhalte sich provozierend. Ein Mann hat mir etwas über die Geschichte des 1. Mai erzählt. Ich habe die Atmosphäre beim Straßenfest als sehr friedlich empfunden. Am Nachmittag konnte man sich gar nicht vorstellen, dass es hier am Abend Krawall gibt.
Łukasz: Mich hat am meisten interessiert, was die Kreuzberger Anwohner von den Demonstrationen halten. Guck dir die Leute doch an, hat ein Mann zu mir gesagt. Sie sind nur hier, um Spaß zu haben und am Krawall teilzunehmen.
Ist das auch dein persönlicher Eindruck?
Łukasz: Für jemanden, der in einem kommunistischen Land aufgewachsen ist, sind die Demonstrationen in Berlin sehr lustig. Mein Gefühl ist, dass die Leute überhaupt keine Ahnung haben, was Kommunismus ist. Sie demonstrieren, um Spaß zu haben, und nicht, weil es ihnen um ein ernsthaftes Anliegen geht. Es ist schon paradox. Ihr lebt in einem wohlhabenden Land und braucht es nicht.
Gibt es in Polen vergleichbaren Demonstrationen?
Łukasz: Seit zwei oder drei Jahren gibt es in Warschau am 1. Mai eine Demonstration von Feministinnen, Anarchisten und Schwulen, das heißt, der 1. Mai ist nicht mehr in der Hand von den Sozialisten und Kommunisten. Viele Warschauer interessiert das aber nicht. Sie fahren am 1. Mai lieber aufs Land.
Nimmst du in Warschau manchmal an Protestveranstaltungen teil?
Łukasz: Früher, als ich Kind war, waren Demonstrationen verboten. Stattdessen wurden die Leute gezwungen, an den 1.-Mai-Aufzügen der Regierung teilzunehmen. Wenn man sich weigerte, konnte man seinen Job verlieren. Nach dem Ende des Kommunismus dann, im März 1997 oder 1998, habe ich auch mal demonstriert. Da war ein junger Student von der Mafia auf der Straße getötet worden. Die ganze Gesellschaft war geschockt und hat mit schwarzen Fahnen gegen die Gewalt protestiert.
Zurück nach Kreuzberg. Was ist dir bei dem Feldversuch noch aufgefallen?
Łukasz: Sehr interessant für mich als Anthropologen war zum Bespiel eine Performance von dänischen Intellektuellen, die ich auf dem Myfest beobachtet habe. Das Publikum bestand größtenteils aus Türken. Das Zusammentreffen der Kulturen, die türkischen Frauen in ihrer traditionellen Moslemkleidung, die eine so genannte Boheme-Performance gucken, das war wirklich sehr interessant für mich.
Hattet ihr für die polnischen Konferenzteilnehmer irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen getroffen?
Sarah: Wir haben versucht, die Leute im Vorfeld so gut wie möglich über den 1. Mai in Kreuzberg aufzuklären. Jeder hat einen Merkzettel mit wichtigen Telefonnummern für den Notfall und Verhaltensmaßregeln zum Beispiel für den Fall eines Tränengaseinsatzes bekommen. Auch eine offizielle Bescheinung mit FU-Briefkopf und der Unterschrift eines Professors sollte jeder erhalten. Im Falle einer Festnahme kann so etwas ganz nützlich sein.
Was war das Ziel eurer Forschung? Was ist am Ende des Blitzversuchs herauskommen?
Tabea: Das Setting war so, dass Sarah, Agate und ich uns auf die so genannten Action-orientierten Kids konzentriert haben. Łukasz hat sich mit anderen aus seiner Untergruppe um die Anwohner und Gewerbetreibenden vom Myfest gekümmert. Aufgabe war, sich eine strategische Gruppe herauszusuchen und zu gucken, ob diese gemeinsame Interessen hat und bestimmte Ziele verfolgt.
Und das Ergebnis?
Sarah: Über die konkreten Ergenisse müssen wir uns noch in den Arbeitsgruppen austauschen. Meine Erkenntnis ist, dass die Migrantenkids auf keinen Fall die tragende Kraft der Auseinandersetzung waren.
Tabea: Wenn alle Gruppen ihre Ergebnisse zusammentragen, hoffen wir, dass ein eigenes Bild vom 1. Mai entsteht und wir eine Idee bekommen, was Ethnologen auf einer Polyphonie-Konferenz wie der unseren jetzt in Berlin in so kurzer Zeit so alles zustande bringen können.
Polyphonie?
Sarah: Polyphonie stammt aus der Musikwissenschaft und bedeutet, mehrere Stimmen hörbar zu machen. Die Idee ist, dass junge Nachwuchswissenschaftler ihre Forschungsergebnisse in einem ungezwungenen Rahmen vortragen können, ohne dass immer die großen Professoren dabei sind. Wir machen das jetzt schon zum 6. Mal. Die Warschauer sind seit dem 4. Mal dabei. Dabei ist die Idee entstanden, alle weiteren Konferenzen in Kooperation zu machen.
Habt ihr es denn alle bis zum Schluss der Krawalle in Kreuzberg ausgehalten?
Agata: Ich habe mich lieber fern gehalten.
Łukasz: Ich habe nicht viel mitbekommen. Ich bin gegen 21 Uhr mit einem Freund zur U-Bahn geflüchtet und weggefahren. Ich hatte Angst, dass mir was passiert. Ein paar Punks haben uns gefragt, ob wir zusammen mit ihnen gegen die Polizei kämpfen wollen. Sie waren ziemlich betrunken oder auf Drogen. Es war sehr lustig, weil sie nicht bemerkt haben, dass wir Ausländer sind.
Sarah: Ich bin bis halb zwölf geblieben, so lange wie nie zuvor. Früher bin ich immer nach Hause gegangen, wenn es losging.