: Angstsparen mit Jo-Jo-Effekt
Macht Sparen schlank? Oder macht Schlemmen reich? Joschka Fischer verkündet nichtnur einen Mentalitätswechsel in der Finanzpolitik – er verkörpert ihn auch perfekt
VON RALPH BOLLMANN
Warum ausgerechnet Joschka Fischer? Wieso muss der Bundesminister des Auswärtigen, der den Deutschen so gerne die große Welt erklärt, plötzlich ins Klein-Klein der Berliner Finanzpolitik hinabsteigen und die Abkehr der Bundesregierung von ihrer Sparpolitik verkünden? Noch dazu als heimlicher Vorsitzender der Grünen, einer Partei, die bislang eifrig für einen schlanken Haushalt eintrat?
Betrachtet man die Fotos des Ministers aus den sechs rot-grünen Jahren, erschließt sich die Antwort quasi von selbst: Weil niemand den Mentalitätswechsel in der Finanzpolitik im Wortsinne so perfekt verkörpert wie er, konnte Fischer jetzt in einem Spiegel-Interview zu seinen klaren Worten finden: „Nur sparen, streichen, kürzen bringt uns nicht das notwendige Wachstum.“ Solange der Minister noch täglich joggte und den Genuss von Mineralwasser pries, behielt seine Regierung auch die Staatsschuld unter Kontrolle. Die Abkehr vom Sparkurs vollzog sich dann im gleichen Rhythmus, wie sich der Bauchumfang des Politikers ausweitete. Langsam, aber unaufhaltsam.
Der Zusammenhang ist nicht neu. Politiker, die im Privaten der Völlerei frönten, zeigten auch im Umgang mit öffentlichen Kassen schon immer wenig Neigung zu spartanischer Zurückhaltung. Mit dem ganzen Gewicht seines historisch gewachsenen Körpers saß einst Kanzler Helmut Kohl den Anstieg der Staatsschulden bis zur Marke von einer Billion Euro aus.
Kann es ein Zufall sein, dass im Laufe der Neunziger Körperkult und Sparpolitik nahezu gleichzeitig ihren Siegeszug antraten? Gleich reihenweise schlossen städtische Finanzdezernenten jene Schwimmbäder, in denen sich übergewichtige Sportverächter auf der Liegewiese wälzten. Im Gegenzug eröffnete an jeder Straßenecke ein neues Fitness-Studio, wo elektronische Anzeigen über jede ausgeschwitzte Kalorie penibel Rechenschaft ablegten.
Auf dem Höhepunkt von Börsenboom und New Economy hat sich die Rhetorik von Sparpolitikern und Fitness-Fanatikern nahezu verschmolzen. Wenn der Staat heute seinen Haushalt verschlankt, so lautete das gängige Argument, dann wird er auch morgen noch kraftvoll zubeißen können. Das klingt wie der Ratschlag der Krankenkasse: Wer sich regt und auf schwere Kost verzichtet, erleidet später keinen Herzinfarkt.
Das Problem ist nur: Die Meinungen der Wissenschaft ändern sich schnell, in Wirtschafts- und Finanzfragen ebenso wie in der Gesundheitsbranche. Kaum hat eine Studie ermittelt, dass leichte Unterernährung das Leben um Jahre verlängern kann – da finden andere Forscher heraus, ein bisschen Übergewicht sei doch eigentlich ganz gesund. Und jeder hält sich am liebsten an die Theorie, die den eigenen Lebensstil legitimiert und möglichst keine Änderung verlangt.
Wäre sich die rot-grüne Regierung dieser Zusammenhänge rechtzeitig bewusst geworden, hätte sie sich manche Enttäuschung ersparen können. Gewiss, die Spar-Rhetorik des Finanzministers war lange Zeit höchst populär. Aber wie konnte Hans Eichel nur auf die Idee kommen, der Beifall beziehe sich auch aufs Sparen selbst? Schließlich empfinden die wenigsten Menschen Dicksein als positiv. Zum Abnehmen kann sich trotzdem kaum jemand entschließen.
Mit seinen simplen Diät-Rezepten hat Eichel gleich ein ganzes Land dem Jo-Jo-Effekt ausgeliefert. Den Jahren der schlanken Neuverschuldung folgt nun ein Rekordgewicht, das die Werte vor Beginn der Diät deutlich übertrifft. Der Reformstau hat sich durch die leichte Kost nicht aufgelöst. Im Gegenteil. Das Land leidet erst recht unter Verstopfung. Ja, schlimmer noch: Was eigentlich der Gesundheit hätte dienen sollen, führt geradewegs zur krankhaften Magersucht des Angstsparens.
Fischer hat eigentlich nur ausgesprochen, was ohnehin nicht mehr zu leugnen war. Er weiß aus eigener Erfahrung: Sind bei der Diät die Dämme erst gebrochen, gibt es kein Halten mehr. Will man zum Beispiel auf Süßigkeiten ganz verzichten und hat dennoch einen Keks gegessen – was spricht dann noch dagegen, auch zehn davon zu essen? Die Prinzipien sind ohnehin schon über Bord, dann kommt es nicht mehr darauf an.
Wird die Politik also bald wieder von Dicken dominiert wie einst bei Ludwig Erhard, Franz Josef Strauß oder Helmut Kohl? Steigen die Chancen des Niedersachsen Sigmar Gabriel auf ein Comeback in Berlin? Wohl kaum. Ein Zurück zur unbeschwerten Völlerei ist kaum noch möglich, seit die Diät-Rhetorik in alle Bereiche durchgesickert ist. Vielleicht sollten sich die rot-grünen Politiker lieber auf ihre Anfänge besinnen. Ernährungsberater jedenfalls empfehlen in solchen Fällen „ausgewogene, mediterrane Kost“. Mit anderen Worten: die Rückkehr zu den Gewohnheiten der Toskana-Fraktion.