: „Der Terror tötet die Rationalität“
Das Votum repräsentiert nicht die israelische Mehrheit, sagt der Historiker Tom Segev
taz: Ariel Scharon erscheint heute als Opfer der Rechten seiner Partei, die ihm die Aufgabe des Gaza-Streifens verweigern. Halten Sie es für möglich, dass die Abstimmung ein politischer Schachzug war?
Tom Segev: Nein, ich glaube, dass Scharon wie eine ganze Reihe von wichtigen Militärs die Problematik der israelischen Kontrolle über die Gebiete erkannt hat. Er steht an einer Front, an der er nicht gewinnen kann. Die geplante Aufgabe des Gaza-Streifens ist ein taktischer Zug. Wir haben es hier nicht mit einem großartigen Humanisten zu tun, sondern mit einem General.
Aber war es nicht abzusehen, dass der Plan, mit dem die Arbeitspartei erst vor gut einem Jahr die größte Wahlschlappe erlitt, weil er zu links war, beim Likud durchfallen musste?
Wir dürfen uns nicht optisch täuschen lassen. Es waren ganze 60.000 Leute, die gestern dagegen gestimmt haben. Die meisten gehören zu den Kreisen der Siedler und repräsentieren noch nicht einmal den Likud, geschweige denn die gesamte Öffentlichkeit. Nein, überaschend ist das Ergebnis nicht. Schon gar nicht nach dem Anschlag am Sonntag, nach dem die Leute eigentlich gegenteilig hätten stimmen müssen. Aber alles hier wird aus dem Bauch heraus entschieden. Der Terror tötet unsere Fähigkeit, rational zu bleiben.
Was halten Sie als Historiker davon, eine so wichtige politische Entscheidung von den Mitgliedern nur einer Partei beeinflussen zu lassen?
Es ist völlig in Ordnung, dass sich der Parteivorsitzende mit den Parteimitgliedern berät, vor allem, weil Scharon zum Wahltag das Gegenteil versprochen hatte. Dennoch mag es aus politischer Sicht unklug gewesen sein. Umfragen zeigen, dass 70 Prozent der Gesamtbevölkerung für einen Abzug sind. Ich bin der Meinung, dass, wenn die Umstände sich verändern, der Zeitpunkt für Neuwahlen gekommen ist.
Scharon selbst hat die Abstimmung an ein Vertrauensvotum geknüpft. Steht das mangelnde Vertrauen in Verbindung mit dem Korruptionsfall?
Da bin ich fast sicher. Für Scharon ist das Ergebnis ein persönlicher Schlag. Die Leute mögen diese Korruptionsaffären nicht. Aber Scharon hat auch andere Erwartungen enttäuscht. Der Terror und die Wirtschaftsmisere – alles wird schlimmer. Zu allem Überfluss drohen nun auch noch Ermittlungen gegen ihn.
Auch wenn er strafrechtlich möglicherweise nicht verfolgt werden wird – was kann Scharon noch tun?
Er könnte sich mit der Arbeitspartei zusammentun und eine neue Koalition bilden.
Gegen den Willen der eigenen Partei?
Er wird die passenden Antworten finden. Er wird sagen, es ist wichtig für den Staat. Schließlich wäre es nicht das erste Mal, dass er ein Versprechen nicht hält. Die Frage ist, ob die Palästinenser dumm genug sein werden und den Terror fortsetzen. Scharon ist nicht wirklich vom Likud abhängig, auch wenn mit seiner Schwächung ein parteiinterner Putsch wahrscheinlicher wird. Vorläufig würde ich sagen: Es ist nicht viel passiert. Der Likud ist dagegen, das ist peinlich aus politischer Sicht, aber keine historische Entscheidung, die die Möglichkeiten wirklich einschränkt.
Vielleicht öffnet die Niederlage gerade wieder neue, alte Wege, etwa die Rückkehr zu bilateralen Verhandlungen?
Solange wir es mit Scharon und Jassir Arafat zu tun haben, wird sich nichts ändern. Auch mit anderen Politikern gäbe es vielleicht keinen Friedensvertrag aber doch wenigstens eine bessere Führung. Wobei Scharon mit seinem Abzugsplan immerhin einen Schritt versuchen wollte, die Spannungen zu verringern. Ich bin sehr für den Plan, mit oder ohne bilaterale Einigung.
INTERVIEW: SUSANNE KNAUL