zwischen den rillen
: Neuer Ton für alte Filme: The Cinematic Orchestra

Kamera im Kopf

Eigentlich verwunderlich, dass Jason Swinscoe erst jetzt damit rausrückt. 1997 startete der britische DJ mit sechs Musikern ein Projekt, das er „Cinematic Orchestra“ nannte, um seine ausgeklügelten Jazz-Arrangements mit elektronischen Loops, Samples und Soundeffekten zu kombinieren.

Mit Kino hatte das noch nicht wirklich viel zu tun – außer dass ein paar Kritiker begannen, Swinscoe als Cineasten zu bezeichnen und seine Musik als Soundtrack zu einem gar nicht existenten Film. Doch es dauerte nicht lange, bis jemand den Namen für bare Münze nahm: das Porto Film Festival beauftragte Swinscoes Truppe 1999, den „Mann mit der Kamera“ zu vertonen, den viel gerühmten Dokumentarfilm von Dziga Vertov, einem Pionier der russischen Film-Avantgarde.

Vertov drehte den Film 1928 in Moskau, Kiew und Odessa. Monatelang sammelte er Eindrücke des russischen Lebens, die er dann als Tagesablauf zusammenstellte: Von der Morgentoilette bis zum abendlichen Kneipenbesuch sehen wir Menschen bei der Arbeit, auf dem Markt, beim Sport, beim Trockenschwimmen am Schwarzen Meer, ja sogar eine gebärende Mutter. Mitten in diese virtuos montierten Aufnahmen stellte Vertov den Kameramann, der diese Bilder produziert – immer filmend, immer auf der Suche nach neuen Perspektiven. Denn Dziga Vertov, der 1919 die Dokumentarfilmergruppe „Kinoki“ gründete, wollte in Dogma-Manier vor allem eins: „Das Leben so zeigen, wie es ist.“ In seinen Manifesten prangerte er jede Art von Inszenierung als Verfälschung an. Aus der Kamera machte er das „Kinoglaz“ (zu Deutsch „Kino-Auge“), welches die Wahrnehmung der Welt durch das menschliche Auge in Frage stellen sollte.

Vertov wollte den Film als völlig eigenständiges Kunstwerk stärken, in Abgrenzung zu den nächst verwandten Kunstformen Literatur und Theater – weshalb der „Mann mit der Kamera“ weder über Dialoge noch eine Handlung verfügt. Doch ohne die Kunstform Musik wollte auch Dziga Vertov nicht auskommen. Zwar rief er mit den „Kinoki“ anfangs noch dazu auf, den Film auch von der Musik zu „säubern“. Doch noch bevor der erste Tonfilm die russischen Kinos erreichte, beschäftigte ihn das Thema Filmmusik.

Für seinen „Mann mit der Kamera“ schrieb er musikalische Instruktionen auf. Das waren keine Noten, sondern ein Text, in dem Vertov vor allem festhielt, wie eine Musik seinen Bildrhythmus verstärken und sein Montagekonzept widerspiegeln sollte.

Bis heute haben sich nicht wenige filmbegeisterte Musiker daran gemacht, für Vertovs Bilder den passenden Soundtrack zu liefern: Den Beginn machte Anfang der 90er das Alloy Orchestra, ein amerikanisches Trio, das sich auf die Vertonung von Stummfilmen spezialisiert hat. Es folgten der Klangtüftler Pierre Henry, der Norweger Geir Jenssen mit seinem Projekt „Biosphere“, das britische Elektronika-Duo „In the Nursery“ und zuletzt der filmerfahrene Minimalist Michael Nyman. Nun steht das Cinematic Orchestra neu auf der Liste der Hommagen, die Vertov sicher mit Stolz erfüllt hätte.

Jason Swinscoe hat Vertovs Instruktionen gelesen. Doch anders als etwa das Alloy Orchestra, dessen Musik sich sehr präzise an jedem Schnitt, an jeder kleinen Bewegung im Bild orientiert, heftet er sich nicht an die Geschwindigkeit der Straßenbahnen, und eine Menschenmasse bedeutet bei ihm nicht automatisch ein vielstimmiges, lautes Arrangement. Das Cinematic Orchestra beschäftigt sich vielmehr mit der Atmosphäre, die Vertovs Bilder erzeugen.

Seine Mixtur aus Samples und Live-Elementen – Klavier, Schlagzeug, Streicher, Bass, Saxofon, Klarinette – ist hier ein bisschen verträumt, an anderer Stelle lustig entspannt. Manche Stellen erinnern an eine verrückte Jam-Session, in anderen Momenten lauscht man einer süßen Klavierimprovisation. Und immer wieder dazwischen das aufreibende Scratchen an den Turntables – ein Effekt ganz im Sinne Vertovs, der in seinen Schriften auch forderte, ein Filmschaffender solle sich stets der aktuell verfügbaren Technologie bedienen.

Neben dem Soundtrack als Audio-CD bringt das Cinematic Orchestra die neu vertonten Bilder nun als DVD in die Plattenläden. Das Beispiel vom „Mann mit der Kamera“, ein halbes Dutzend Mal vertont, weist auf eine Lücke im noch jungen DVD-Markt hin: die Vereinigung verschiedener Soundtracks auf einem Filmdatenträger. Man gucke sich nur Beispiele wie Murnaus „Nosferatu“ oder Langs „Metropolis“ an: Für beide Filme sind bis heute mehr als zehn Filmmusiken geschrieben worden. Da wäre es doch ein gewaltiger Fortschritt, wenn zumindest ein paar von ihnen auf einer einzigen Scheibe erklingen könnten. JAKOB BUHRE

The Cinematic Orchestra: „Man With A Movie Camera“ (Ninjatune)