: Rot-Grün ist paralysiert
Prinzipien sind das eine, der Machterhalt das andere. Rot-Grün steckt in der Debatte um eine finanzpolitische Wende fest
AUS BERLIN HANNES KOCH
Beim Frühstück im Berliner Regierungsviertel fielen gestern deutliche Worte. Die Einlassungen von Außenminister Joschka Fischer „geben den aktuellen Sachverhalt nicht umfassend wieder“, erläuterte Christine Scheel, Finanzexpertin der Grünen, nach dem Kaffee. Und fügte hinzu: „Schade“.
Getagt hatten früh in kleiner Runde die Haushalts- und Finanzpolitiker der Grünen – neben Scheel unter anderem Antje Hermenau, Alexander Bonde und Franziska Eichstädt-Bohlig. Die waren sich einig, dass Fischer via Spiegel am Wochenende ziemlichen Stuss erzählt habe. „Nur sparen, streichen, kürzen bringt uns nicht das notwendige Wachstum“, hatte der Lieblingsgrüne der Republik mit Verve erklärt. „So nicht“, antworteten gestern diejenigen Grünen, die ihrer Selbsteinschätzung nach etwas vom Geld verstehen: „Mehr Schulden aufnehmen, um notwendige Investitionen zu tätigen, das halten wir nicht für okay.“ Kurz darauf schaltete sich Fraktionsvize Reinhard Loske zu: „Die nachhaltige Finanzpolitik ist ein Markenzeichen der Grünen. Die Marke verkauft man nicht.“
Die Ansage der grünen Abgeordneten an die Adresse von Joschka Fischer ist sichtbares Zeichen einer seit Monaten schwelenden Auseinandersetzung zweier kontroverser Linien im Regierungslager. Scheel, Loske & Co. grenzen sich nicht nur gegen den Obergrünen ab, sondern stellen sich gleichzeitig an die Seite des frustrierten und in Bedrängnis geratenen Finanzministers Hans Eichel (SPD). Die andere Seite vertreten prominent Bundeskanzler Gerhard Schröder und sein Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (beide SPD). Inhaltlich geht es um die Frage, wie die lahme Konjunktur und die miese Lage der öffentlichen Finanzen (bis zu 47 Milliarden Euro Defizit im Bundesetat 2004) in den Griff zu bekommen sind – mit Eichels bekannter Sparpolitik oder durch mehr Schulden und Investitionen, die die Wirtschaft ankurbeln sollen.
Die Akzentverschiebung hin zur stärkeren Betonung von Ausgaben und Impulsen hat sich bereits vor geraumer Zeit durch das Schröder-Wort vom „Ende der Zumutungen“ angedeutet, ist aber seit vergangener Woche auf den Punkt gebracht. Während der Kabinettssitzung am 28. April wiesen Schröder und Clement darauf hin, dass der Öffentlichkeit ein weiteres milliardenteures Sparpaket nicht mehr zu vermitteln sei. Eichel nahm diese Stellungnahmen unkommentiert hin. Aus seinem Ministerium heißt es dagegen, dass man natürlich ein „vernünftiges Sparpaket“ schnüren müsse – wenn die anderen Ressorts das Haus nur ließen.
Zwar versuchen alle Beteiligten, den Konflikt in Grenzen zu halten. So sagte Schröder gestern, mehr Schulden seien nicht der richtige Weg. Doch zweierlei hat dazu beigetragen, dass Rot-Grün um eine faktische Neuausrichtung ihres Kurses kaum herumkommt. Der Koalition läuft die Zeit davon. Bald hat sie die Halbzeit ihrer zweiten Legislaturperiode erreicht. In einem Jahr findet die Landtagswahl im rot-grün regierten Nordrhein-Westfalen statt, die gemeinhin als Vorentscheid über das Schicksal der Regierung bei der Bundestagswahl 2006 gewertet wird. Und gleichzeitig können Schröder, Fischer & Co. weder die wirtschaftliche Lage noch die Stimmung im Lande ins Positive wenden. Wenn sie wiedergewählt werden wollen, muss endlich etwas passieren.
Zum anderen ist die Lage der öffentlichen Finanzen mit den bisherigen Mitteln kaum noch zu beherrschen. Vor der kommenden Steuerschätzung am 13. Mai hat keiner der Akteure eine realistische Antwort auf die Frage, wie das zusätzliche Bundesdefizit von möglicherweise 18 Milliarden Euro 2004 und 15 Milliarden 2005 gedeckt werden kann – außer durch zusätzliche Schulden.
Was konkrete Maßnahmen zum Händeln der Krise angeht, ist Rot-Grün gegenwärtig paralysiert. Einzelne Vorschläge wie den Verkauf weiterer Aktien der Telekom und der Post aus Bundesbesitz gibt es, doch steht in den Sternen, was dabei herausspringt. Andere Vorschläge der Regierungsspitze finden zwar selbst das Wohlgefallen der grünen Nachhaltigkeits-Fraktion, widersprechen aber der Erkenntnis, dass es jetzt nicht opportun sei, den Bundesbürgern noch mehr Geld wegzunehmen.
Zum Beispiel Clements aktueller Vorschlag, den Sparerfreibetrag zu eliminieren: Den privaten Haushalten würden damit gut zwei Milliarden Euro entzogen, was sich nachteilig für die Nachfrage auswirkte. Investierte man dieses Geld stattdessen in Wissenschaft und Forschung, würde sich der Wohlstandszuwachs erst in einigen Jahren einstellen. Kann man machen, zur Lösung der aktuellen Probleme trägt es nicht bei.
Der Vorschlag des neuen Wirtschaftsberaters der Bundesregierung, des Würzburger Ökonomen Peter Bofinger, ist da relativ einfach. Eichel solle abermals die „Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ erklären und damit die Voraussetzung schaffen, um die Schuldenaufnahme 2005 so zu erhöhen, dass die Verfassung nicht verletzt werde. Die Krise, argumentiert Bofinger, sei doch offensichtlich – schließlich nehme die Zahl der Erwerbstätigen dieses Jahr weiter ab. Ob sich Rot-Grün zu dieser Erkenntnis durchringen mag, ist noch nicht ausgemacht.