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Archiv-Artikel

„Hauptsach’, gut ’gess’“

Nie mehr zurück ins Kaff, wo man aufwuchs. Bloß nicht sterben, ehe der Tod kommt. Aber was macht man, wenn die Eltern krank sind und Pflege brauchen? Die Geschichte von einem, der auszog, die Provinz hinter sich zu lassen, und doch zurückkehrte, weil er nicht anders kann

von MARTIN REICHERT

Die Redensart geht so: „Eiweiler im Loch, wir finden dich doch.“

Eiweiler? Ein Arbeiterbauerndorf im nördlichen Saarland, das im Tal am Fuße des Peterbergs liegt. Kein Handyempfang möglich. Von Neunkirchen aus, dem Geburts- und Wohnort der Sängerin Nicole, geht es noch ein paar Kilometer bergab, bevor man, am Sportplatz der Sportfreunde Eiweiler vorbei, ins Dorf gelangt.

Fußball hat Nikolaus H., 51, nie gespielt. Nikolaus ist schwul. Aber das weiß im Dorf keiner.

Spätestens ab Ortseingang hat man den Eindruck, hinter einem wird zugesperrt“, sagt Nikolaus H. lächelnd. Seit Anfang des Jahres lebt er wieder in Eiweiler, die Wohnung in der Berliner Kurfürstenstraße ist gekündigt. Statt auf das Metropol-Theater blickt er jetzt von seinem Schlafzimmer aus auf die stets gefegte Dorfstraße. Seine Eltern sind beide über neunzig Jahre alt, dem Vater wurde der Unterschenkel abgenommen. Jetzt sitzt er im Rollstuhl und braucht Pflege.

Die Mutter hat schwere Herzprobleme. Nikolaus, allein stehend und arbeitslos, hat sich gesagt: „Sie haben ihren Teil getan, jetzt tue ich meinen. Ich kann nicht sagen, ich kann nicht, in Berlin sitzen und mich drücken.“ Die Geschwister haben selbst Familie und keine Zeit, die Eltern wären ohne ihn in ein Heim gekommen. Nikolaus hat nun einen geregelten Tagesablauf: Essen machen, den Vater waschen, einkaufen, das Haus in Ordnung halten. „Der Nikolaus kann alles“, sagt die Mutter.

Der Vater hat geweint, als man ihm das Bein abgenommen hat. Von der Staublunge wurde der Bergarbeiter zwar verschont, dafür bekam er Durchblutungsstörungen in den Beinen, wie schon die Großmutter, die bei lebendigem Leib verfault war. „Das war ein schwerer Schlag für mich“, sagt der Vater beim Essen, die Augen sind feucht, „Jetzt kann ich nicht mehr auf dem Peterberg spazieren gehen“. So wie früher, jeden Tag fünf Kilometer.

Schluss mit der Jammerei, jetzt ist Mittagszeit. Es gibt Kartoffelsalat mit Speck und Zwiebeln, dazu Würstchen. Vorher wird gebetet, auf der Eckbank in der Wohnküche steht eine Marienstatue. „Hauptsach’, gut ’gess’“, sagt der Saarländer in jenem Idiom, das Gerd Dudenhöfer in der Serie „Familie Heinz Becker“ bekannt gemacht hat, „bei uns ist noch keiner verhungert.“

Wenn Saarländer hochdeutsch sprechen, hören sie sich an wie Oskar Lafontaine. Nikolaus nicht, denn er ist schon zu lange weg von zu Hause. Schon mit sechzehn wollte er abhauen, nach Berlin, doch die Mutter entdeckte den gepackten Koffer im Schrank, und Nikolaus musste die verhasste Bäckerlehre zu Ende machen. Wenigstens musste er nicht „auf die Hütte“, stattdessen fuhr er jeden Morgen mit dem Bergarbeiterbus nach Krettnich und lernte Brot und Kuchen backen. Und nach Feierabend hatte er auf den Feldern mitzuhelfen.

Aus all dem wollte er raus, immer schon, lieber dorthin, von wo aus man ihn nicht so leicht zurückholen konnte: nach Berlin. Immer schon hatte er Fernweh, ohne zu wissen, warum. Die anderen Jungs und Mädchen seines Jahrgangs sind bis auf drei im Dorf geblieben und haben gebaut, wie die Sängerin Nicole. Der Heimat treu geblieben.

Neulich war Kirmes im Dorf, Nikolaus ist nicht hingegangen, vielleicht hätte er dort ein paar Leute von früher getroffen, aber er hat Angst, sich mit ihnen nichts zu sagen zu haben.

Es gibt einen neuen Dorfplatz in Eiweiler, genau gegenüber der Neubaukirche aus den Sechzigerjahren, dafür muss der Bach jetzt durch eine Betonröhre fließen. Der CDU-Ortsverein wirbt per Aushang für eine Schwarzwaldfahrt, über allem wacht die Mutter Gottes in einer Lourdes-Grotte. Nie hätte Nikolaus sich vorstellen können zurückzukehren.

Wo früher das Lebensmittelgeschäft war, ist jetzt die Pizzeria „O Sole Mio“. Nikolaus kann sich noch gut erinnern, wie die Frauen des Dorfs sich dort über die TV-Ausstrahlung des Rosa-von Praunheim-Films „Nicht der Homosexuelle ist pervers …“ erregt haben. Den Film hatte er nicht gesehen: „Ich wusste nicht, was schwul ist.“ Er kann sich ebenfalls erinnern, dass seine Mutter immer die Straßenwerbeplakate mit halb nackten Frauen von den Wänden gekratzt hat, die fand sie unmöglich.

Die Zeiten haben sich auch in Eiweiler geändert, bis vor fünf Jahren lebte ein Mann sogar offen schwul im Dorf, ehe er nach Berlin zog. Das Thema ist sozusagen nicht mehr so krass anstößig. Zumal ein Cousin von Nikolaus schwul ist und das nicht verhehlt: „Er hat sich wohl jetzt vom Rocco getrennt“, sagt die Mutter plötzlich und ohne Anlass beim Spülen, wendet sich dann aber sofort einem schmutzigen Handtuch zu. Nikolaus ist erstaunt, dass sie dieses Thema überhaupt anreißt.

Die Mutter ist erschöpft, hat Wasser in den Beinen und der Lunge, will aber den Haushalt machen, so gut sie kann. Nikolaus macht es fertig, dass sie keine Ruhe geben kann, zwanghaft putzt und wischt, ihre in Jahrzehnten gewachsene Ordnung aufrechtzuerhalten sucht: Was sollen denn die Leute denken?

Nikolaus hatte sein Coming-out 1976 in Berlin, obwohl er schon in London als Kellner gearbeitet hatte. Dem ersten Liebhaber hat er nach dem Akt wütend eine geknallt, wollte der doch einfach grußlos verschwinden.

Für Nikolaus waren damals Liebe und Sexualität untrennbar verbunden, so hatte er es zu Hause gelernt. Eine treue Seele ist er geblieben. Seinen langjährigen Partner Piotr, einen gebürtigen Polen, hat er bis zum Schluss gepflegt.

Anfang der Neunzigerjahre war sein Piotr an Aids erkrankt, brach plötzlich zusammen, lag im eigenen Erbrochenen und hatte eingekotet: Toxoplasmose. „Jetzt können wir nie wieder zusammen ein Glas Wein trinken“, hat er zu Nikolaus gesagt, als er im Krankenhaus wieder aufgewacht war.

Drei Jahre dauerte es, bis die Ärzte Nikolaus im Flur kühl mitteilten, dass sein Freund „austherapiert“ sei. Am Ende wuchsen ihm die Pilze aus dem Mund, da war er aber nicht mehr bei Bewusstsein. Nikolaus war natürlich bei Piotr, als er starb. „Seine letzten zehn Tage waren die schlimmsten in meinem Leben. Ob ich das verarbeitet habe, weiß ich nicht“, sagt Nikolaus. Am Tag nach der Beerdigung in Posen reiste er eilig nach Eiweiler, die Eltern feierten ihre goldene Hochzeit. Unmöglich, dass der jüngste Sohn fehlen würde. Es gab Rindfleisch mit Remoulade, Markklößchensuppe, Rollbraten.

Wäre Piotr eine Frau gewesen, seine Frau, hätte die Familie nicht goldene Hochzeit gefeiert. Sie wäre zur Beerdigung nach Polen gefahren. So wäre es gewesen, aber Nikolaus würde dies nie so formulieren. Er beklagt sich nicht.

Nikolaus reist oft nach Posen, besucht das Grab Piotrs und die Familie, die ihn jedes Mal herzlich empfängt. Die wissen nicht, dass ihr Sohn schwul war, vielleicht weil sie es nicht wissen wollen. Piotr hatte seinem Priester erst am Totenbett in Berlin gebeichtet, dass er homosexuell ist. Der Geistliche meinte, das sei ja nichts Ungewöhnliches. So einfach war das in Berlin.

Der Friedhof von Eiweiler liegt etwas oberhalb des Dorfs, beim Sportplatz. Neulich hat es Ärger um ihn gegeben. Auf so genannten Rasengräbern wurde Blumenschmuck gesichtet. Das entspricht nicht der Vereinbarung und lässt die anderen Angehörigen oll aussehen, so als wäre ihnen das Grab egal.

Nikolaus kann sich vorstellen, dort begraben zu werden, obwohl er sich dem Dorf entfremdet fühlt: „Ich kenne hier alles, es ist vertraut, aber es ist nicht mehr meine Heimat.“ Die fände er dort, wo er sein Leben leben kann. „Vielleicht kann man das auch hier?“

Seinen Hauptwohnsitz hätte er gerne in Berlin belassen, aber das ging nicht, wegen des Arbeitslosengelds. „Zur Sicherheit wäre mir das lieber gewesen, ich möchte auf jeden Fall zurück“, sagt er. Aber erst dann, wenn seine Aufgabe erledigt ist, also seine Eltern in einem Rasengrab liegen. Bis zum Schluss also. Wie bei Piotr. Nikolaus will ihnen und sich treu bleiben.

Von Eiweiler aus sind es fünfunddreißig Kilometer bis Saarbrücken, fünfzig bis nach Trier. Dort gibt es eine wenn auch überschaubare schwule Infrastruktur, „vielleicht fahre ich da demnächst mal hin“. Zeit hat er dafür eigentlich nicht.

Zum Abendessen gibt es Brot, Wurst und Käse. Lyoner, die saarländische Heimatspeise, der Fleischwurstring, darf nicht fehlen.

Die Unterhaltung verläuft brüllend, die Eltern tragen ihre Hörgeräte nicht gern. Aber die Eltern erzählen ohnehin nicht viel. Auf Nachfrage erwähnt der Vater, dass er im Krieg auch in Berlin gewesen sei. Drei Monate lang das Brandenburger Tor bewacht. Wie das so war in Berlin? „Kalt.“

Dass „der Klaus“ dahin gegangen ist, haben sie nie verstanden. Für die Mutter war es schon schwer genug gewesen, aus der Eifel nach Eiweiler umzuziehen. Seitdem lebt sie achtzig Kilometer von ihrer Heimat entfernt und ist im Dorf immer eine „Zugereiste“ geblieben. Bis nach Berlin sind es über achthundert Kilometer.

Abends um elf Uhr wird endlich der Toilettenstuhl für den Vater geliefert, es ging nicht früher. „Der Klaus legt den Papa nieder“, sagt die Mutter und strickt noch ein wenig an ihren Wollstrümpfen herum, „gut, datt wir den noch ham“; die Strümpfe sind für Klaus. Im Flur steht eine KaDeWe-Plastiktüte.

Als die Eltern im Bett sind, erzählt Nikolaus, dass er ständig Heimweh nach Berlin hat, macht noch eine Flasche Rotwein auf und sagt: „Jetzt trinken wir uns das Kaff schön.“ Immerhin hat er sich freiwillig in die Isolation begeben. „Die Landschaft ist schön, die Ruhe auch, allerdings suche ich gar nicht nach Ruhe.“

Sein Zuhause in Berlin war über siebzehn Jahre lang das Restaurant Le Bou Bou am Kurfürstendamm, dort hat er als Kellner gearbeitet, bis zur Schließung vor über zehn Jahren. Die Gastronomie war für ihn das Tor zur Welt, die Speisekarte des Trierer Hotels Porta Nigra aus dem Jahr 1970 hat er aufgehoben, dort hatte er damals seine Ausbildung zum Kellner gemacht: „Soupe à l’oignon“, Zwiebelsuppe, drei Mark zwanzig. Helmut Kohl war auch mal da; Herbert Wehner saß, wenn er dort nächtigte, schon morgens um sechs im Frühstückszimmer.

Nette Erinnerungen. Jedenfalls war Trier Nikolaus nicht weit genug weg, anders als seinen jüngeren Cousinen, die dort studierten, aber stets mit der festen Absicht, in ihr Saarland zurückzukehren. Obwohl ein Blick in die St. Wendeler Zeitung belegt, dass junge Menschen sich in der Heimat eher zu langweilen scheinen: Ein Neunzehnjähriger hat sich zu Tode gerast, Unbekannte haben die Türschlösser der Nikolaus-Obertreis-Schule verklebt, in Sotzweiler warfen Jugendliche Blumenkästen in den Fluss. Der Theaterverein Werschweiler gab den Schwank „Die Gedächtnislücke“, woraufhin der „Gemeindesaal aus allen Nähten platzte“. Nikolaus hat jetzt einen Opel Astra Caravan, ohne Auto geht’s nicht. Sein Bruder hat den Wagen günstig besorgt, der ist Anwalt und CDU-Miglied.

Nikolaus hasst Opels, „viel zu spießig“. Am Autofenster vorbei ziehen Dörfer, die immer gleich aussehen: Die eigentlich nüchtern-schönen Sandsteinfassaden sind verschandelt durch Aluminiumfenster, lindgrüne Isolierplatten und jede Menge Rauputz. Jugendliche sitzen an Bushaltestellen herum. Die sehen nicht aus, als brauchten sie die Welt. Nikolaus ist als Kind wenigstens immer zu den Bahngleisen gelaufen, um die Züge zu sehen, die dorthin fuhren, wo es weniger öde sein würde.

In St. Wendel ist Stadtfest. Im Café Treibhaus sitzt ein junges schwules Paar, trinkt Cappuccino und schaut unauffällig zu uns herüber. Allein die Möglichkeit, dass es in der tiefsten Provinz Schwule gibt und die sich auch noch zu zeigen scheinen, wirkt auf Nikolaus berauschend. „Wäre früher undenkbar gewesen.“ Trotzdem sind hübsche Männer Mangelware, „die sind alle in Berlin“, sagt Nikolaus und lacht. Da muss er nächstens wieder hin, die Wohnung in der Kurfürstenstraße renovieren und übergeben.

Eine befreundete Requisiteurin vom Film hatte neulich die ganze Wohnung fotografiert, weil dort alles so authentisch nach Achtzigerjahren aussah. Nikolaus hatte seit dem Tod Piotrs nichts verändert. Ein Film wird dort jetzt nicht mehr gedreht werden. In Zukunft wird er in seinem alten Kinderzimmer wohnen, in dem Doppelbett, in dem er schon mit seinem Bruder gelegen hat.

Sonntag gibt es Schweinebraten mit „Krumpern“ (Kartoffeln) und gedünsteten Möhren, die Mutter hat gekocht und das Wasser in der Lunge ignoriert, neben dem Herd steht ein Stuhl, dort kann sie sich ausruhen. Den Braten mit Messer und Gabel zu essen ist für die Eltern eine Herausforderung, aber sie können ihr Essen noch selbst zu sich nehmen, wenn auch nur langsam. Und wie sie es ihren Kindern beigebracht haben, so halten sie sich auch selbst daran: Es muss alles aufgegessen werden.

„Wir sind einfache Leute“, sagt die Mutter zum Abschied und überreicht ein Paket Schinkenbrote für die Fahrt. Am Bahnhof Türkismühle ist die Luft schwül, es riecht nach Pilzen und Diesel. Nikolaus winkt hinterher.

MARTIN REICHERT, Jahrgang 1973, wuchs in Wittlich bei Trier auf und zog 1996 nach Berlin: „Mein einziges schwules Vorbild war ein Freund meines Vaters, der einmal im Jahr als Nana Mouskouri im Karnevalsumzug mitlief“