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Archiv-Artikel

Keine tolle Kiste

Mit dem Buch „Fischkistendorf Lurup“ würdigt die Literaturwissenschaftlerin Anke Schulz die miefenden Notbehausungen in den Vorstädten als die Grundeinheit für die Slums einer Hafenstadt

von CHRISTINE KEILHOLZ

So begann der soziale Wohnungsbau in der Hansestadt. Für die, denen der finanzielle Mangel kein massives Eigenheim erlaubte, waren die Verpackungskisten der Fischindustrie der naheliegendste Baustoff. „Noch bis vor fünfzig Jahren musste sich das stadträndliche Arbeiterviertel Lurup den Schimpfnamen ,dat Fischkistendorp‘ gefallen lassen“, erzählt Anke Schulz, Autorin des Buches „Fischkistendorf Lurup“. Ähnliches galt für Eidelstedt, Osdorf und Stellingen – damals noch weniger attraktive Wohngegenden als heute.

Diese Bautradition wurde zu Zeiten der Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit der späten 20er Jahre geboren. Vor der Einführung des genormten Schiffscontainers zimmerten sich die Ärmsten aus allen erdenklichen Materialien Notunterkünfte, die nur in den seltensten Fällen behördlichen Gutachten standgehalten hätten. Ausgemusterte Behältnisse für Eier, Seife oder eben Fisch beherbergten, auf die grüne Wiese gestellt, ganze Familien.

Die Menschen, die in den zuweilen eigenwilligen Bauten aus dünnem Fischkistensperrholz hausten, waren arm, meist arbeitslos und zogen permanent einen Schweif aus Fischdunst hinter sich her. Der vormalige Inhalt einer solchen Box ließ sich nicht so einfach ausräuchern. Immer wieder sah sich die Gesundheitspolizei gezwungen, gegen diese Siedlungsform vorzugehen – die Ausdünstungen zogen zu weite Kreise.

Dennoch konnte sich das Wohnen in der Kiste durchaus lauschig gestalten. In für urbane Verhältnisse angenehm grüner Umgebung regelten Kleintierhaltung sowie Obst- und Gemüseanbau die Grundversorgung der Bewohner.

So wurde die Kiste zur Grundeinheit von Siedlungen, die wir heute als Slum bezeichnen würden. Die Arbeiter, die hier mit ihren Familien hausten, waren meist sozialdemokratischer oder kommunistischer Wesensart. Dies ergaben die Nachforschungen von Anke Schulz, die selbst aus dem Arbeiterviertel stammt: „Während des Nationalsozialismus wurden viele der politisch links aktiven Siedler verfolgt und stattdessen gezielt der Zuzug systemtreuer Familien gefördert.“ Diese bekamen ihre Kisten-Heime von KZ-Häftlingen gebaut.

Mit dem billigen und zumeist illegalen Fischkistenbau wurde in den 50er Jahren aufgeräumt. Im Sinne des Nachkriegsaufbaus mussten die ebenso geliebten wie gehassten Dauerprovisorien vorschriftsgemäßen Mietskasernen oder Reihenhäusern weichen.