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Archiv-Artikel

Vor der Haustür die USA

In Teheran sind die Studentenproteste nicht nur Ausdruck einer Opposition zur islamischen Herrschaft, sie sind auch ein Bekenntnis zu einem selbstbestimmten Leben. Das Schicksal Irans könnte mit der Verwestlichung im Irak entschieden werden

70 Prozent der Iraner bekennen sich zu ihren Sympathienfür Amerika

von STEFAN WEIDNER

Die Ruhe vor dem Sturm erlebt man in Teheran zum Sommeranfang fast täglich. Den ganzen Tag ist es heiß, gegen Nachmittag wird es diesig, es bildet sich eine Wolkendecke, und eine drückende Schwüle lastet über der Stadt. Dann kommt der Wind. Zunächst sind es nur ein paar Böen, sie fegen einem den Staub in die Augen. Mit einem Mal verdunkelt sich der Himmel, schwere Regentropfen platzen auf den Asphalt, und es stürmt. Kaum jemand ist auf der Straße. Das geht so eine Stunde vielleicht. Nun legt sich der Wind, der Regen wird eine Erinnerung, und während der Himmel aufklart, stellt man fest, dass es schon lange gedämmert hat. Die Nacht wird so lau und sternenklar und voller Menschen sein wie alle Nächte zuvor. Ein Narr, wer aufgrund des kleinen allabendlichen Unwetters Pullover und Regenschirm mitführen würde. Ein Narr, wer aufgrund der Studentenproteste in Iran mit einem schnellen Wandel rechnet.

Am 9. Juli werden wir mehr wissen. Dann jähren sich die bislang größten Studentenunruhen seit der iranischen Revolution zum vierten Mal. Unabhängig von den Aktivitäten iranischer Exilgruppen, die in den letzten Tagen durch spektakuläre Aktionen den Weg in die europäischen Schlagzeilen fanden, bereiten sich in Iran sowohl Studenten als auch Sicherheitskräfte schon seit Monaten auf diesen Tag vor. Die Studenten bemühen sich, eine legale, gleichwohl möglichst öffentlichkeitswirksame Aktion zu starten. Die Sicherheitskräfte versuchen, genau das zu verhindern. Nun sind die Proteste zur Überraschung aller einen Monat früher losgebrochen, ausgelöst vom Plan des Wissenschaftsministeriums, die Universitäten zu privatisieren – was unweigerlich eine Erhöhung der Studiengebühren zur Folge hätte.

Die Niederschlagung der Studentenproteste von 1999 war der Anfang vom Ende der Glaubwürdigkeit des vermeintlichen Reformpräsidenten Chatami, der die Proteste damals nicht unterstützte. Wenn die Studenten heute folgerichtig auch den Rücktritt von Chatami fordern, bedeutet dies, dass sie die Hoffnung aufgegeben haben, im politischen Establishment einen Anwalt zu finden. Eine milde, eine reformierte islamische Herrschaft, einen „Dritten Weg“, ein „iranisches Modell“ wird es nicht geben, lautet die bittere Botschaft, das einzige Fazit dieser Proteste. Den jungen Iranern bleibt nur noch eine Hoffnung: vor der Haustür die USA.

Während der Schlachtruf „Tod Amerika“ immer noch die Propagandaveranstaltungen des Regimes ziert, haben sich in einer Umfrage 70 Prozent der Iraner zu ihren Sympathien für Amerika bekannt. Der Grund dafür ist nicht, dass die USA in Iran besonders segensreich wirken. Vielmehr ist die Sympathie für die USA zunächst nur eine unspezifische Form der Opposition gegen das Regime. Sind die USA aber einmal als das positive Gegenbild zum Regime etabliert, bleibt es nicht aus, dass gerade die jungen Leute sich auch inhaltlich an den USA orientieren.

Die vor allem in Kalifornien blühende Popkultur der Iraner im Exil ist – eben in Ermangelung einer eigenen Popkultur – schon jetzt die Popkultur auch der jungen Iraner in Iran. Das iranische Privatfernsehen hat seinen Sitz in Form von Satellitensendern in den USA und ist fast konkurrenzlos, da kaum jemand, der bei Sinnen ist, das iranische Staatsfernsehen einschaltet. Schließlich ist der einzige wirklich freie öffentliche Raum, der den Iranern zur Verfügung steht, mehrheitlich ebenfalls amerikanischer Provenienz, nämlich in Gestalt von Chatrooms im Internet. Es ist daher nicht nur Propaganda, wenn iranische Offizielle zur Erklärung der jüngsten Proteste behaupten, diese seien von den USA gesteuert. Hieße es „aus den USA oder von Iranern über den Umweg der USA“, wäre der tatsächliche Sachverhalt ziemlich richtig beschrieben.

Ein unbefangener Besucher wird in Iran auf den ersten Blick nichts von der explosiven Mischung spüren, die in den Köpfen der Menschen zur Entladung drängt. Teheran präsentiert sich friedlich, und anders als etwa in Kairo sieht man nicht an jeder Straßenecke Uniformierte mit Kalaschnikows. Mit den großartigen Parks der Stadt, die offensichtlich als Prestigeobjekte gelten, können die öffentlichen Grünanlagen in deutschen Städten schon lange nicht mehr konkurrieren. Selbst die unübersehbaren Warntafeln, Drogensüchtige mögen wegen der Aidsgefahr bitte nicht dieselben Spritzen benutzen, wecken eher Erinnerungen an die Schweiz als an ein Land vor der Zerreißprobe.

Die kilometerlange gartenähnliche Uferpromenade auf beiden Seiten des Zayanderud in Isfahan mit ihren frisch renovierten historischen Brücken aus dem 16. Jahrhundert dürfte weltweit einzigartig sein. Abends picknicken hier die Familien, flanieren die Jugendlichen, treffen sich die Pärchen. In den Cafés, nach Art von Hausbooten in den Fluß ragend auf den flach auslaufenden Pfeilern der alten Brücken sich ausdehnend, brodelt das Leben. Risse offenbart das Bild nur, wenn man mit Leuten ins Gespräch kommt.

Das geschieht, ehe man sich versieht. Während ich an einem schönen Maiabend die Isfahaner Brücken fotografiere, werde ich mit einem unüberhörbaren „Hello, how are you?“ von Hamaseh angesprochen. Von Teppichhändlern ist man diese Art der Anmache gewohnt, nicht aber von einer hübschen jungen Perserin. Einen Moment lang bin ich perplex: Was will die? Ich finde es schnell heraus: Hamaseh will reden. Ohne großen Vorlauf erzählt sie, dass sie 28 sei und endlich, endlich einen Mann über das Internet kennen gelernt hätte. Sie haben sich schon drei- oder viermal getroffen, aber die Eltern sind gegen diese Verbindung, weil der Mann vier Jahre jünger sei. Ob ich glaube, dass so eine Beziehung funktionieren könne? Sie hätten ja keine Gelegenheit, sich wirklich kennen zu lernen.

Allerdings gebe es noch andere Probleme. Der Freund sei nämlich noch nicht mit dem Studium fertig und müsse danach erst mal zwei Jahre Militärdienst ableisten. Außerdem habe er nicht viel Geld, so dass sie, die bisher als Englischlehrerin in einem der zahlreichen Sprachlehrinstitute arbeitet, ein eigenes Institut aufmachen wolle, in dem dann, in drei Jahren nach dem Militärdienst, ihr Freund arbeiten könne. Es sei die herrschende politische Ordnung, die verhindere, dass sie so leben könne, wie es ihr vorschwebe. Als Frau dürfe sie zum Beispiel keine Firma gründen, daher sei sie von ihrem Bruder abhängig. Jedenfalls spare sie jetzt schon einmal und sie hoffe, dass sie ihre Eltern und den Bruder noch überzeugen könne, denn sie wolle nicht gegen deren Willen handeln.

Gleichwohl sei diese Verbindung ihre einzige Hoffnung. Viele ihrer Bekannten, sagt sie, hätten dieselben Probleme, aber niemand traue sich, darüber zu sprechen. Meiner Frage, ob sie keine Freundin habe, mit der sie sich darüber austauschen kann, weicht Hamaseh aus. Es ist klar, sie hat keine. Deswegen redet sie mit mir. Der Ausländer verschwindet, hinterlässt keine Spuren. Wäre sie mit einem Iraner unterwegs, müssten die Eltern fürchten, es bahne sich ein Verhältnis an.

Hamaseh, das merkt man schnell, ist eigentlich zutiefst unpolitisch. Ihre Sorgen sind emotionaler Natur. Weil sich der Staat aber stark in das Privatleben einmischt, sucht auch sie die Schuld beim politischen System. So wird ein unerfülltes Privatleben auf einmal zum Ferment des politischen Widerstands. Dies könnte sich auf Dauer als viel größere Gefahr für das Regime erweisen als die Proteste, die von originär politischen Fragen ausgehen. Die Unterdrückung der Sexualität, über die alle jungen Leute in Iran mit verblüffender Offenheit klagen, betrifft mehr Menschen und betrifft sie tiefer als die Privatisierung der Hochschulen.

Die Ironie liegt nun darin, dass auch ohne das Regime der Mullahs in einer traditionellen Gesellschaft wie der iranischen die Repression individueller Lebensgestaltung an der Tagesordnung wäre. Richtig besehen hat Hamaseh daher mehr Probleme mit ihren Eltern als mit dem System, aber da sich das System den Traditionalismus auf die Fahnen geschrieben hat, wird es auch dafür verantwortlich gemacht. So fördert die herrschende Ideologie einen Abscheu gegen genau diejenigen Werte und Traditionen, die sie verteidigen will. Und aus demselben Grund ist auch die Sympathie für die USA nicht wirklich politisch. Kaum ein Iraner ist so naiv zu glauben, dass die Amerikaner Saddam gestürzt haben, um den Irakern Demokratie zu bringen.

Aber trotzdem lernen alle Englisch, wollen alle in Amerika studieren und wünschen sich manche sogar einen Militärschlag der USA gegen das Regime. Praktisch ohne eigenes Zutun, allein dank der antiamerikanischen Rhetorik, verkörpern die USA in Iran den Traum vom richtigen Leben im falschen.

Was den eigentlichen Raum des Politischen betrifft, hat das Regime in Teheran die Zügel immer noch fest in der Hand. Wenn schon gegen einige hundert auf dem Universitätsgelände verharrender Studenten die eigens dafür herangezüchteten Schlägertrupps aufgeboten werden, ahnt man, dass es in Teheran schneller einen zweiten Platz des Himmlischen Friedens als einen Sturz des Regimes geben wird.

Das Ende des Systems wird, wenn überhaupt, auf andere Weise kommen. Es wird kommen, wenn es den USA tatsächlich gelingen sollte, in ein paar Jahren eine vorbildliche wirtschaftliche und politische Ordnung im Irak zu etablieren. Wenn der Irak amerikanisch wird, steht Amerika bei den Iranern vor der Haustür. Niemand wird sie dann hindern können, in Scharen das Land zu verlassen, und das Reich der Mullahs dürfte verenden wie einst die Diktaturen des Ostblocks. Sollte das Experiment Irak aber misslingen – und selbst der schärfste Amerikakritiker wird das nicht wünschen wollen –, werden die Iraner eine weitere Generation Bartträgerherrschaft gewärtigen müssen.