Torwächterin der Literatur

Seit letztem Herbst leitet Deborah Treisman das Literaturressort des „New Yorker“. Auf seine Short-Story-Seiten richten sich die Begehrlichkeiten der literarischen Öffentlichkeit der USA wie sonst kaum

von TOBIAS RAPP

Glücklich, wer in einem Büro mit einer solchen Aussicht arbeitet. Zwar soll demnächst auf dem Nachbargrundstück gebaut werden, noch aber versperrt kein Hochhaus die Sicht, wenn man aus dem 20. Stock des Condé-Nast-Towers herunter auf den Times Square blickt. Aus hundert Meter Höhe kann man all die Menschen betrachten, die sich auf der Suche nach Amüsement über die Bürgersteige schieben und sich durch den Verkehr kämpfen. Sowieso glücklich, wer hier arbeitet, sollte man vielleicht noch hinzufügen, denn der Schreibtisch dieses Büros gehört Deborah Treisman, seit vergangenem Herbst die Leiterin des Literaturressorts des New Yorker.

Als „Torwächterin der Literatur“ ist Deborah Treisman von der New York Times zu ihrem Jobantritt bezeichnet worden, und auch wenn sie für diesen Ehrentitel nur ein freundliches Lachen und ein „ach ja, die berühmte Überschrift“ übrig hat – es dürfte wenige Orte in der literarischen Öffentlichkeit der USA geben, auf die sich so viele Hoffnungen und Begehrlichkeiten richten wie auf die Short-Story-Seiten des New Yorker. Dafür ist es unerheblich, ob man bereits eine Reihe von Literaturpreisen im Schrank stehen oder noch keine Zeile veröffentlicht hat. Es macht gerade den Reiz der Seiten aus, dass man neben bewährten Kräften wie John Updike und Haruki Murakami eben auch weniger bekannte Autoren findet.

Die Debut Fiction Issue, jene aktuelle Doppelausgabe, in der drei Debütanten vorgestellt werden und die Deborah Treisman in diesem Jahr zum ersten Mal verantwortet, gilt als zuverlässiger Indikator dafür, von welchen Nachwuchsschriftstellern in der amerikanischen Literatur in den kommenden Jahren etwas zu erwarten ist. Wer hier eine Erzählung veröffentlichen kann, steht auf der literarischen A-Liste.

Deborah Treisman kam 1997 zum New Yorker, nachdem sie vorher in den Literaturabteilungen verschiedener anderer Zeitschriften gearbeitet hatte. Geboren ist sie in England, aufgewachsen in Kanada, und ihre gesamte Familie – Vater, Mutter, Bruder, Schwester – besteht aus Professoren, ihr Stiefvater ist außerdem noch Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften.

Nun ist es allerdings selbst in der Celebrity-besessenen New Yorker Medienszene unüblich, dass die Neubesetzung eines Ressortleiterpostens eine solche Aufmerksamkeit erhält, Torwächterin hin, next big thing in literature her. Auch wenn Deborah Treisman gerade einmal 33 Jahre alt ist und – so sympathisch, klug und zurückhaltend sie im Gespräch wirkt – eben gar nicht dem Bild entspricht, das von Mitarbeitern des New Yorker durch das kollektive Unbewusste geistert und dessen aktuelle Version sich irgendwo zwischen der versponnenen Autorin von Großreportagen über Orchideenzüchter in Florida (siehe Spike Jones Film „Adaptation“) und dem hämisch-arroganten Großstadt-Besserwisser bewegt (siehe Adam Sandlers Film „Mr Deeds“).

Es hat vor allem mit dem New Yorker selbst zu tun, jener merkwürdigen Institution eines wöchentlichen Stadtmagazins, das mit seiner ganz eigenen Mischung aus großartigen Porträts, abseitigen Reportagen, betulichen Cartoons, politischem Kommentar und Liebe zum Detail gleich welcher Art zur New-York-Folklore gehört wie die reichen Witwen der Upper East Side. Auch wenn sich das Layout nach wie vor weigert, die ästhetischen Gepflogenheiten der Gegenwart zur Kenntnis zu nehmen – es macht den Charme des Heftes aus, dass es sich gestalterisch seit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nur unwesentlich verändert hat –, gerade auf den Seiten des New Yorker haben sich einige der turbulenten kulturellen Entwicklungen der vergangenen Jahre gespiegelt.

Einer der Protagonisten dieses Wirbels war Bill Bruford, Treismans Vorgänger. Und den Kampf, den er focht, kann man sich ähnlich vorstellen wie jenen, der in den Neunzigern in Deutschland rund um die Popliteratur ausgetragen wurde.

1995 wurde er von der mittlerweile sagenumwobenen Chefredakteurin Tina Brown zum New Yorker geholt, in der Hoffnung, er werde den auf hohem Niveau dahindämmernden Literaturteil ähnlich durchlüften, wie sie es mit dem Rest des Magazins tat, indem sie es der Popkultur öffnete, sich in Hollywood Glamour abholte und regelmäßig Schwerpunkthefte produzierte, deren Veröffentlichung dann von spektakulären Events begleitet wurden. Allesamt unerhörte Vorgänge für die New Yorker-Traditionalisten, die das Magazin in Scharen verließen.

Bruford tat sein Bestes. Er veröffentlichte Kurzgeschichten von Stephen King, zeigte sich mit Salman Rushdie auf Partys und führte die Debütanten-Ausgabe ein. Er blieb, als Tina Brown den New Yorker verließ, um 1998 ihr Magazin Talk zu starten (eine Zeitschrift, die Anfang letzten Jahres eingestellt wurde – heute befindet sich Brown im vorläufigen Ruhestand und schreibt Kolumnen für das Online-Magazin salon.com über das Glück, viel Geld und nichts zu tun zu haben), und geriet nach einer Weile in die Kritik. Er führe das Ressort zu zentralistisch, hieß es, außerdem veröffentliche er unverhältnismäßig mehr Texte von Männern als von Frauen.

Auch wenn Deborah Treisman nicht so recht mit der Sprache heraus will, wenn man sie fragt, worin sich ihre Auswahl von Texten von der ihres Vorgängers unterscheidet – sie sei sich in ihrer Zeit mit ihm in neun von zehn Fällen mit ihm einig gewesen, sagt sie –, einiges fällt auf, wenn man die Debut Fiction Issue zur Hand nimmt. Zwei der drei vorgestellten Debütanten sind Frauen, außerdem sind zwei von dreien keine gebürtigen Amerikaner, auch wenn sie mittlerweile in den USA leben und auf Englisch schreiben. Und alle drei Geschichten teilen ein gemeinsames Grundmotiv: das der Entwurzelung.

Ob es der Ich-Erzähler in Daniel Alarcóns „City of Clowns“ ist, der seinem Vater aus der peruanischen Provinz in die Hauptstadt Lima gefolgt ist und dort als Reporter arbeitet, ob es die zwei Freundinnen in Heather Clays „Original Beauty“ sind, deren Freundschaft unaufhaltsam ausbleicht, weil die eine nach der Schule die Stadt verlassen hat, oder ob es die Nachwuchslehrerin in Lara Vapnyars „Love Lessons, Monday, 9 A. M.“ ist, die aus der russischen Provinz nach Moskau gezogen ist und dort nun Sexualkunde unterrichtet. Es ist ein Motiv, das durch die Lebensgeschichten von zwei der Autoren gedoppelt wird. Daniel Alarcón zog als kleiner Junge von Peru in die USA, Lara Vapnyars kam vor zehn Jahren aus Russland.

Auch die vierte Short Story des Hefts, „Gogol“ von Jhumpa Lahiri, passt in diese Reihe, die Geschichte eines Mannes, dem die Lektüre des russischen Autors in Indien ein Zugunglück überleben lässt, weshalb er nach seiner Immigration in den USA seinen Sohn nach ebenjenem Gogol benennt, was diesem jedoch überhaupt nicht gefällt, ist es doch weder ein bengalischer noch ein amerikanischer, ja nicht einmal ein russischer Vorname. Lahiri ist keine Debütantin, nach mehreren Veröffentlichungen im New Yorker und einem Kurzgeschichtenband wird sie im kommenden Herbst ihren ersten Roman veröffentlichen.

Es gibt noch eine ganze Reihe anderer Autoren, die aus dem Ausland in die Vereinigten Staaten gezogen sind, aber auf Englisch schreiben, die Treisman in den letzten Monaten veröffentlicht hat. Aleksander Hemon, ein Bosnier, der in Chicago lebt, etwa, oder David Bezmosgiz, ein russischer Filmemacher aus Toronto. „Das sind interessante Stimmen, die da von außen kommen und sich mit der amerikanischen Kultur auseinandersetzen“, sagt Treisman. „Seit Nabokov ist das nicht mehr so viel gemacht worden.“

Tatsächlich liest sich Treismans Debütanten-Ausgabe so, als wolle sie das Bruford’sche Modell des popistischen Big Bangs, der Jungserzählung mit dem anschließenden Bieterkrieg um den lukrativsten Buchvertrag, durch stärker hybridisierte Autoren-Ichs ersetzen. Es widerstrebt Treisman jedoch, aus ihrer Auswahl ein Statement für eine experimentelle Literatur der gefühlten post-colonial Selbststudie herauszulesen. „Auf meiner Seite des Schreibtisches geht es nicht um den großen Kontext. Ich denk mir: Das ist eine gute Geschichte. Es geht eher um Sätze als um literarische Bewegungen.“

„Man muss die Augen offen halten. Es gibt die Leute, die wir veröffentlichen. 52 Geschichten pro Jahr, das sind ungefähr 45 Autoren. Und dann gibt es noch rund 200 Autoren, mit denen wir korrespondieren und auf die richtige Geschichte warten“, erklärt Treisman. „Das sind vor allem junge Autoren, die ihre Stimme noch nicht gefunden haben und deren Geschichten wir erst viel später veröffentlichen.“ Sie selbst ist in einer gewissen Art und Weise ein Kind dieses Netzwerksystems, hat sie doch als elfjähriges Mädchen einmal eine Kurzgeschichte an den New Yorker geschickt, die zwar nicht gedruckt, aber immerhin mit einem freundlichen Ablehnungsschreiben bedacht wurde. Auch heute finden sich Geschichten von Elfjährigen in den Manuskriptstapeln.

Doch so überzeugend Deborah Treisman ihre Rolle als Torwächterin herunterspielt, die Konzentration auf den Blick von der Peripherie ins Zentrum, auf die literarische Stimme, die gleichzeitig von innen und von außen spricht, passt in die Zeit nach dem großen Buzz.

Schaut man sich einen Autor wie den gerade einmal 26-jährigen Daniel Alarcón an, so erscheinen einem die Kämpfe, die in den Neunzigern um das Verwischen der Unterschiede zwischen Hoch- und Popkultur geführt wurden, schon jetzt wie Balgereien aus einer fernen Zeit. Wenn sich der Reporter in Alarcóns Erzählung als Clown verkleidet durch die Busse von Lima bewegt, so ist es fast gleichgültig, ob man sich eher an das London von Charles Dickens oder an das Los Angeles der Schwarzen Serie erinnert fühlt. Er transportiert vor allem ein Gefühl des kämpferischen Verloren-Seins. Und das macht in den posteuphorischen Nullerjahren durchaus Sinn.