Du warst mein Herz

Modern Talking, Role Model fürs popkulturelle Lumpenproletariat, verabschiedete sich mit einem Konzert in der Berliner Wuhlheide. Es bleibt die Gewissheit: Ein neuer Frühling kommt bestimmt

von KOLJA MENSING

Philipp, Jan und Thomas geben noch einmal alles. In selbst bedruckten T-Shirts laufen sie durch die Reihen und versuchen bereits vor Konzertbeginn, die ersten Begeisterungsstürme auszulösen. Die drei sind Anfang zwanzig und damit sozusagen Fans der zweiten Stunde. 1998, als Dieter Bohlen und Thomas Anders das Comeback von Modern Talking verkündeten, haben Philipp, Jan und Thomas in ihrer Heimatstadt Lüneburg sofort einen Fanclub gegründet, denn: „Dieter ist Kult.“

Philipp, der mittlerweile Betriebswirtschaft studiert, hat bei einem Karaoke-Wettbewerb sogar ein Treffen mit Dieter Bohlen nach dem Konzert in Magdeburg gewonnen, aber daraus wird nun nichts mehr werden. Der Auftritt ist wie der Rest der Tournee auch abgesagt: Thomas Anders und Dieter Bohlen werden in Zukunft wieder getrennte Wege gehen. Modern Talking soll an diesem Samstagabend in der Berliner Wuhlheide zum letzten Mal auf der Bühne zu sehen sein.

Philipp, Jan und Thomas machen aus dem Bekenntnis zum schlechten Geschmack eine Party. Damit gehören sie zu der kleinen Minderheit der mehr oder weniger akzeptierten Modern-Talking-Fans, die es schon in den Achtzigerjahren gegeben hat – nur dass man damals noch wie Thomas Anders eine selbst gebastelte Goldkette mit „Nora“-Schriftzug trug. Dass es darüber hinaus bis heute auch wirkliche Fans gibt, Menschen also, die Modern Talking ohne den kleinsten Anflug von Ironie einfach nur hundertprozentig prima finden, konnte man sich lange Zeit nur schwer vorstellen.

Dabei war der Erfolg von Thomas Anders und Dieter Bohlen kaum von der Hand zu weisen. 1985 gelang es den beiden, in kurzer Folge gleich vier Hits in den Charts zu platzieren. Sie trafen den Nerv der Zeit. Mit Songs wie „Cherie, Cherie, Lady“ oder „Brother Louie“ waren sie in das noch weitgehend unerforschte Niemandsland zwischen Schlager und Pop vorgestoßen, in dem man bis heute mit einem eingängigen Refrain und ein bisschen guter Laune König sein kann. Modern Talking machten Musik für alle die, die eigentlich keine Musik hören – und Thomas Anders wurde mit seinem Goldschmuck, den Trainingsanzügen und der immer etwas künstlich wirkenden Gesichtsbräune zum Prototyp eines neuen provinziellen Spießertums, das sich nicht mehr in Vorgärten, auf Kegelbahnen oder in Vereinsheimen, sondern in Sonnenstudios, Fitnesscentern und Großraumdiskos zu Hause fühlt.

Mittlerweile hat sich dieses popkulturelle Lumpenproletariat, das damals noch wegen der Fuchsschwänze an den Antennen ihrer GTIs verlacht wurde, seinen Platz in der Mitte der Mediengesellschaft erkämpft. Mit Big Brother und anderen Common-Sense-Phänomenen waren auch Modern Talking Ende der Neunzigerjahre voll gesellschaftsfähig. Die Band feierte ein grandioses Comeback, nur dass diesmal nicht Thomas Anders, sondern Dieter Bohlen im Mittelpunkt stand: Seine naive Großkotzigkeit und das sorgsam gepflegte Image des ungebildeten Selfmademan wurden im Feuilleton als „authentisch“ gefeiert – und daheim auf der durchgesessenen Couch als neue Heilslehre aufgenommen.

„Der sieht aus, als ob er direkt von da oben kommt“, ruft ein blasser, junger Mann mit fettigen Haaren und zeigt mit seiner Marlboro in den Himmel über Berlin, als Dieter Bohlen im Nadelstreifenanzug und mit goldener Krawatte zum Intro von „TV Makes The Superstar“ die Bühne betritt. Das also ist die Stunde der wahren Fans, die mit ihren marmorierten Jeans, dem Strass-Schmuck und den ausgebleichten Dauerwellen eher ärmlich als retro wirken. Übergewichtige Mittvierzigerinnen singen jede einzelne Textzeile mit, während die Männer an ihrer Seite die mitgebrachten Digitalkameras auf die Bühne richten und sich zufrieden über den ausrasierten Nacken fahren.

Samantha, 11 Jahre alt, sitzt auf den Schultern ihres Vaters und hat ein großes Plakat dabei – „Ihr seid super“ –, und spätestens bei „Atlantis is calling“ haben sie alle ihre Papiertaschentücher herausgeholt und schwenken sie im Takt. Alles ist ein bisschen billig, und von einer guten Show kann keine Rede sein. Die Wuhlheide ist bei weitem nicht ausverkauft, Thomas Anders holpert sich durch die Ansagen, und nach eineinhalb Stunden ist einfach Schluss – ohne Zugabe. Trotzdem ist niemand enttäuscht, denn Dieter Bohlen hat den Fans noch einen seiner Sinnsprüche mit auf den Weg gegeben. Niemand müsse traurig sein, wenn es mit Modern Talking zu Ende gehe: „Gerade war Frühling, jetzt wird es Sommer, und irgendwann kommt wieder der Frühling.“ Darauf kann man sich einigen.