: Ungleich, aber gerecht
Besserverdienende verfügen über dreifache Sicherheit: Bildung, Einkommen und Besitz. Da können sie von ihrem Einkommen ruhig mehr abgeben als die Niedrigverdiener
Die neueste Idee von Kanzler Schröder lautet, die Steuerreform vorzuziehen, wenn man es gegenfinanzieren kann. Es ist durchaus in Ordnung, über die deutsche Finanzpolitik nochmals nachzudenken. Aber es wäre ein Desaster, wenn die geplante Steuerreform völlig unverändert bliebe und sogar noch ein Jahr früher stattfände. Denn sie würde die soziale Ungleichheit verschärfen und den Staat langfristig weiter verarmen lassen. Das Kernproblem lässt sich recht schlicht beschreiben: Die Spitzenverdiener würden zu stark entlastet.
Doch zunächst – zur Erinnerung – die Eckpunkte der geplanten Reform. Sie besteht im Wesentlichen aus zwei Bereichen: Die unteren Einkommen sollen profitieren, indem der Eingangssteuersatz auf 15 Prozent sinkt und der Grundfreibetrag auf 7.664 Euro steigt. Den oberen Einkommen käme zugute, dass der Spitzensteuersatz von aktuell 48,5 auf 42 Prozent fallen soll. Das Bundesfinanzministerium lobt seine Reform als „das größte Steuersenkungsprogramm der Nachkriegsgeschichte“. Insgesamt verschenkt der Staat mehr als 26 Milliarden Euro aus der Einkommensteuer (Schätzwert vom Sommer 2000, als die Reformen verabschiedet wurden). Bei solchen Summen interessiert natürlich, wer wie stark profitiert. Die Antwort ist differenziert.
Um gleich ein kleines, aber sehr gängiges Missverständnis auszuräumen: Die Besserverdienenden würden nicht völlig leer ausgehen, wenn der Spitzensteuersatz bei den heutigen 48,5 Prozent bliebe. Auch die hohen Einkommensgruppen profitieren – wie alle –, wenn der Eingangssteuersatz fällt und der Grundfreibetrag steigt. Nur das Umgekehrte stimmt eben nicht: Die unteren Schichten haben keinen Euro mehr im Portmonee, wenn der Spitzensteuersatz sinkt.
Dass selbst bei den Höchsteinkommen markante Ungleichheiten herrschen, hat Ver.di kürzlich festgestellt. Denn nicht alle in diesen elitären Regionen hätten gleich viel vom gesenkten Spitzensteuersatz: Wer unverheiratet 75.000 Euro zu versteuern hat, der würde gegenüber 1998 „nur“ 3.115 Euro sparen. Bei 500.000 Euro würden hingegen 47.446 Steuereuro verschenkt; bei einem Verdienst von 1 Million sind es sogar 103.000 Euro. Die Maximalverdiener profierten also am meisten. Schon diese Summen zeigen, dass eine weitere sehr gängige Meinung ebenfalls nicht zutrifft: Es handelt sich keineswegs um „Peanuts“, die an die Spitzenverdiener verteilt werden. Es geht um Milliarden von Euro. Und die wird man zu späteren Zeiten nicht mehr zurückfordern können. Wenn der Spitzensteuersatz einmal auf 42 Prozent gesenkt ist, dürfte es sehr schwer sein, ihn jemals wieder stark steigen zu lassen.
Allerdings ist noch eine weitere Differenzierung anzubringen: Obwohl die Spitzenverdiener massiv entlastet werden, tragen sie dennoch die Hauptlast der Steuerreform. Oder, wie es das Finanzministerium hochgerechnet hat: Es sind schon jetzt diejenigen, die mehr als 30.000 Euro (verheiratet 60.000) pro Jahr verdienen, die den größten Teil der gesamten Einkommensteuer aufbringen. 2001 lag ihr Anteil bei 58,4 Prozent; durch die Steuerreformen würde er sogar auf 67 Prozent steigen.
Wenn man nun fordert, dass der Spitzensteuersatz bei 48,5 Prozent bleiben soll, während der Eingangssteuersatz sinkt und der Grundfreibetrag steigt, dann würde sich die anteilige Belastung der Besserverdiener natürlich noch weiter verschärfen. Kann das gerecht sein? Ja.
Erstens: Sehr viele Gutverdienende sorgen bereits bestens für sich selbst, wenn es ums Steuersparen geht. Da muss der Staat nicht nachhelfen. Die Deutsche Steuergewerkschaft schätzt, dass jährlich etwa 70 Milliarden Euro an Steuern hinterzogen werden – nahezu das Dreifache des Gesamtvolumens der Einkommensteuerreform. Und dieses Schwarzgeld sei prinzipiell nicht einzutreiben, da ist die Steuergewerkschaft pessimistisch: Selbst wenn die Finanzverwaltungen über 10.000 weitere Mitarbeiter verfügten und das Bankgeheimnis endlich aufgehoben würde, könnte man höchstens 20 Milliarden Euro aufspüren.
Natürlich kennen die Befürworter des reduzierten Steuersatzes diese Zahlen. Ihr Gegenargument lautet: Die Steuern würden nur hinterzogen, weil die Besserverdienenden so stark belastet sind. Sobald die Sätze sinken, würden auch mehr Einkünfte bei den Finanzämtern angegeben. Doch dürfte das eine Milchmädchenrechnung sein. Schließlich ist es immer die attraktivste Lösung, gar keine Steuern zu zahlen – da ist es fast egal, wie niedrig die Sätze sind. Das zeigt sich nirgends besser als bei einer der vielen Kanzler-Initiativen: bei der „Brücke zur Steuerehrlichkeit“, die vergangenen Mittwoch im Kabinett beschlossen wurde. Im nächsten Jahr haben Steuersünder die Möglichkeit, ihr illegales Fluchtgeld aus dem Ausland zurückzuholen und pauschal mit 25 Prozent nachzuversteuern. Der Kanzler hoffte ursprünglich auf einen Rückfluss von 100 Milliarden Euro – die Steuergewerkschaft und auch der Finanzminister rechnen mit höchstens 10 Milliarden. Denn interessant ist die neue Ehrlichkeit nur für ältere Anleger, die ihre Finanzen noch vor dem Tod in Ordnung bringen wollen. Die Steuerreform entlastet Schichten, die bereits sehr heftig an der Selbstentlastung arbeiten.
Zweitens: Aber selbst wenn alle Besserverdienenden brav ihre Steuern zahlen würden, wären eine scharfe Progression und eine Entlastung der unteren Schichten gerecht. Es wird zu oft zu schnell vergessen: Wer wenig verdient, hat fast nie Vermögen. Jeder Euro Lohn macht einen Unterschied, hundert Euro sind bereits existenziell. Besserverdienende hingegen verfügen meist über eine dreifache Sicherheit: Bildung, Einkommen und Besitz. Da können sie von ihrem Verdienst ruhig ein bisschen mehr abgeben.
Drittens: Alle sind sich darin einig, dass die Binnennachfrage lahmt. Alle sind sich auch darin einig, dass Gutverdienende nicht dazu neigen, zusätzliche Einkommen wie Steuergeschenke komplett in Konsum umzusetzen. Stattdessen wird gespart. Nun wäre dies ungefährlich, wenn damit Investitionen finanziert würden. Genau dies erwarten die Freunde des gesenkten Spitzensteuersatzes. Das erhoffte Unternehmertum ist jedoch nicht sehr wahrscheinlich, weil die Käufer fehlen, wenn die Binnennachfrage schwächelt. Sie lässt sich nur stimulieren, wenn die Geldgeschenke dorthin fließen, wo großer Bedarf besteht: zu den unteren Schichten, die zu wenig besitzen, um sparen zu können. Im Übrigen ist auch der Staat kein schlechter Kunde. Es gibt genug Schulen und Straßen, die man reparieren könnte, wenn nur die Steuermittel vorhanden wären. Volkswirtschaftlich ist es glatter Unfug, die Gutverdienenden massiv zu entlasten und den Staat weiter verarmen zu lassen.
Das Wort „Reform“ hat in Deutschland einen guten Klang. Aber manchmal wäre es die beste Reform, eine Reform zu streichen. Das gilt für den Spitzensteuersatz.
ULRIKE HERRMANN