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Archiv-Artikel

Lauter falsche Monde

Hirsche, Satanisten und eine Fee: Beim Hurricane-Festival versammelten sie sich alle für drei Tage und drei Nächte in Scheeßel. Und am Ende, so hört man, fuhr sogar der heilige Geist vom Himmel

Über den niedersächsischen Wiesen hängt ein Hirsch und lächelt. Seit Donnerstagabend hängt er da und schaut zu, wie sich sein Revier im Minutentakt erweitert: Ohne Pause graben sich bunte Maulwürfe im Polyester-Kleid aus der Erdkugel, Blechraupen kriechen heran. Direkt über dem Hirsch weht eine Piratenflagge: Schädel, gekreuzte Knochen. Grimmig, der Totenkopf, aber für den Hirsch ein Bruder im Geiste: Der Hirsch ist selbst nur noch Kopf – und Geweih. Vorhin erst haben sie ihn aufgeblasen und zusammen mit der Flagge hoch über den Wiesen platziert. „ES GIBT HIER KEIN NETZ“, hat er jemanden mit rotem Bart in ein Handy brüllen hören, „WIR SIND AUF W1, NEBEN UNS IST EINE PIRATENFLAGGE MIT HIRSCHGEWEIH.“ Das Hirschlächeln wird zu einem Grinsen.

Dann werden sie unter ihm hektisch, ziehen sich ihre Jacken an. „Coldplay“, hört der Hirsch, „spielt gleich auf der großen Bühne“. Es ist dämmert, nur das Raumschiff, das auf dem Festivalgelände gelandet ist, speit Dampf: Die Raumschiff-Bühne produziert Gegenlicht und speit Rauch. Der Sänger ist über der Klaviertastatur zusammengesackt, dann springt er auf, reckt sich, boxt in die Luft und singt: „Look at the stars – see how they shine so bright“. Dabei tanzt er wie eine Reinkarnation von Jim Morrison, meidet Blickkontakt und hat sie doch alle vereint unter seiner warmen Dusche. Ein Restromantiker-Fest. Und im Himmel lauter falsche Monde: weiß, rund, mit „Holsten“-Schriftzug.

Wenige Stunden später, es dämmert wieder, Morgengrauen. „Kann nicht irgendein Arschloch mal ein Taxi rufen? Ist mir echt zu weit.“ Der Hirsch ist außer Sichtweite, jenseits des Tunnelblicks am Ende der Straße. Man stolpert. Es ist Festival-Alltag und dieser Tag hat wirklich 24 Stunden, kennt keine Nacht.

Samstags-Sonne, hilft den Festivalisten nichts: Der Tag muss zur Nacht werden, auch in der Nähe des Raumschiffs. Der beeindruckendste aller enderschöpften Schläfer-Typen: Der Alle-Viere-von-sich-Strecker mit T-Shirt über dem Gesicht inmitten der wuselnden Menschenmasse. Ein Vertrauenvorschuss in die Umsicht der Mitmenschen, der ins Unmenschliche geht. So viel Vertrauen schweißt zusammen. Wir sind das Festival, selbst wenn wir nur noch eines wollen: pennen.

Dabei liefert Skin, die ehemalige Sängerin von Skunk Anansie, gerade das Gegenprogramm zu Coldplay: Nur die Ordner halten sie davon ab, sich ins Publikum zu stürzen. Die Kamera, die die riesige Leinwand auf dem Platz versorgt, sabotiert Skin, indem sie dem Kameramann ihren Unterleib ins Gesicht drückt. Als wollte sie um Gottes Willen verhindern, lediglich als fiktive Leinwanderscheinung wahrgenommen zu werden. Der Hirsch rülpst zufrieden.

A propos Kontraste: Hellacopters im Zelt, daneben Björk auf der Bühne, Schweine-Rock gegen Feen-Gesang. Und die Fee macht es sich schwer: schwarzes Gewand zu schwarzen Haaren vor schwarzem Hintergrund – für das Auge bleibt da nicht mehr viel. Dazu sperrige Songs, ausgeführt von einer Hand voll Streicher und einer gut programmierten Festplatte. Björks Mystik, verstärkt durch das Prinzip Verschleierung. Das Raumschiff hebt ab.

Die Überraschung: Massive Attack erden es wieder. Suggestive Sounds zum groovy Schlagzeug, beeindruckend garniert durch Videokunst im Dienst der Sache. Auf einer Leinwand hinter der Bühne rattern rote Zahlenreihen durch die Nacht, als wäre ein C64 mutiert zu einem Mega-Hirn, das die Welt erklärt.

Anderntags dauerte es keine zehn Minuten, bis die Satanisten antworten. Martin vom „Jesus Point“ ist nach seiner sonntäglichen Runde mit dem großformatigen Kreuz in der Hand auf dem Rückweg, da kommen sie ihm mit entgegen: Festival-Besucher mit umgedrehtem Kreuz. „Das sind die Leute aus dem Gegenlager“, sagt „Jesus Point“-Mitarbeiterin Frauke. „Die Satanisten fühlen sich durch unsere Botschaft provoziert.“ Und die lautet: „Jesus loves you“, verbreitet vom „Arbeitskreis Missionarischer Dienste“, in einem Zelt in Nachbarschaft zum Partyzelt „Titty Twister“.

Egal, wie viel Promille die Festivalisten mitbringen, „wir nehmen sie, wie sie sind“, sagt Simone. „Man hat manchmal Schwierigkeiten mit Leuten, die angetrunken sind“, meint Martin. „Andererseits sprechen die sich dann auch gerne aus.“

Ähnlich, wie die Leute nach Radiohead: „Dieser Auftritt war für mich ein Offenbarungserlebnis. Als wäre der heilige Geist vom Himmel herabgefahren“, sagt einer, der vorher skeptisch war. Nur der Hirsch weiß davon nichts. Klaus Irler