Käthes Kokskuchen

Ein Dorf in Hessen gerät außer Kontrolle. Jesbach im Drogenrausch. Eine Reportage

Die Kirche im Dorf ist mit Sprüchen wie „Laster statt Luther“ übersät

Jesbach im Mai 2003. Ein Dorf in Lethargie. Die Sonne scheint. Vögel singen. Langeweile. Lustlosigkeit. Leere. Das ist die Wirklichkeit im Schwalm-Knüll-Kreis. Und nicht nur dort. Deutschland darbt vor Ödnis.

Ein Hund schlummert mitten auf der Dorfstraße von Jesbach. Plötzlich stellt er die Lauscher auf. Im Zeitlupentempo. An der letzten Biegung vor dem Ortseingang tauchen surrend drei schwarze Stretchlimousinen auf. Der Hund erhebt sich und trottet hinüber zum Trottoir.

Auf dem Dorfplatz stoppen die drei Wagen, direkt vor der frisch renovierten lutheranischen Kirche. Niemand hat die Limousinen jemals hier gesehen. Und niemand sieht sie in diesem Augenblick. Ganz Jesbach döst.

Aus jedem Wagen steigen drei unansehnliche Menschen. Die weißen Anzughosen liegen auf den weißen Slippern auf, die Sonne spiegelt sich in den dunklen Brillen, das Haar ist straff gegelt. Sie schleichen um ihre Limos und bleiben am Kofferraum stehen. Jeder holt einen silbernen Koffer heraus. Sie machen sich auf zum Wirtshaus „Am Dorfplatz“.

Am Stammtisch sitzen: Bauer Ewald, Horst K., Pfarrer Sommerauer, Brauer Karl, die Verkäuferin Käthe Z. und ein weiteres Dutzend Existenzen. Es ist ihnen anzusehen, die Idylle ist unerträglich. Zermürbt vom ewigen Glotzen auf den immergrünen Wald, suchen sie Zuflucht im Alkohol. Und das heißt hier: Bier.

„Dann wollen wir mal“, sagt einer der Männer in Weiß. Er öffnet seinen Koffer, holt eine Hand voll Spritzen und Kanülen heraus sowie ein paar Löffel, einen Bunsenbrenner, flüssige Zitrone und ein Päckchen Pulver. „Nun, liebe Leute, gebt fein Acht, ich habe euch was mitgebracht.“

Niemand staunt. Willig lassen sich die Jesbacher von den Fremden reihum die Oberarme abbinden und die Spritzen in die Venen hauen. Sogar ein Grinsen ist hier und da zu beobachten. Etwas, das in Jesbach schon lange nicht mehr zu sehen war.

Drei Wochen später. „Mir fehlen die Worte“, ächzt Bürgermeister Frank D. (CDU). „Jahrzehntelange Aufbauarbeit wurde mit einem Stich zunichte gemacht.“ Ganz anders äußert sich Bauer Ewald: „Das Bier hat mir schon lange nichts mehr gebracht. Da hab’ ich gedacht: Kosten kost’ ja nichts.“ Selbst der Brauer hat umgesattelt. Die unglücklichen Versuche mit hochdosiertem Hanfbier gehören der Vergangenheit an. „Mein Heroinbier“, so Brauer Karl, „ist der Renner!“

Das bestätigt auch Käthe Z. aus dem örtlichen Edeka mit Ringen unter den Augen und eingefallenen Wangen: „Der Heroinbierverkauf brummt. Die Binding kann mir seither gestohlen bleiben.“ Auf dem Verkaufstresen steht ein großes Bonbonglas, randvoll mit szenetypischen Tütchen. „Die Snacks für zwischendurch“, erklärt die Verkäuferin. Auch „für zwischendurch“ hat sich Käthe Z. noch einen besonderen Leckerbissen einfallen lassen: süße Stückchen, die anstelle von Puderzucker mit feinstem Koks bestreut sind. „Die Leute rennen mir die Bude ein.“

Seit dem Besuch der ominösen Männer „aus der Stadt“ ist Jesbach nicht mehr wiederzuerkennen. Fröhlichkeit. Freude. Frohsinn. „Es schmeckt eben“, sagt der siebzigjährige Horst K. „Die Einzige, die den Zug verpasst hat, ist meine Mutter Hildegund.“ – „Mein Sohn Horst“, wimmert die Neunzigjährige, „war doch immer so ein lieber Junge, der am Tag seine zwei, drei Kästen Bier getrunken hat. Und jetzt das …“

Andere ältere Semester sind aufgeschlossener. „Wenn du bloß an diesen gottverdammten Krampfadern leichter eine schöne Stelle finden würdest“, grummelt Metzger a. D. Wummer. Genauso euphorisch äußert sich Pfarrer Sommerauer über die Veränderungen unter seinen Schäfchen. „Dank Ecstasy müssen wir jetzt auch nicht mehr schlafen. Wir sind dem ewigen Leben schon sehr nahe“, predigt er und zieht sich die 5-mm-Kanüle aus der Halsschlagader. Ein weinroter Tropfen fällt auf die weiße Krause. „Mein persönliches Abendmahl“, schmunzelt er, „und zwar gleich schon mal vor dem Frühstück.“

Jesbach im Juni 2003. Der Dorfbrunnen gleicht einem Steinbruch. Die Kirche ist mit Sprüchen wie „Laster statt Luther“ übersät. Überall riecht es nach Erbrochenem und Kot. Umherstreunende Katzen reißen sich die Pfoten an weggeworfenen One-Way-Spritzen auf. Intakte Fensterscheiben gibt es kaum noch. Die Jesbacher sind glücklich. Deutschland, schau auf dieses Dorf! JÜRGEN ROTH,

MICHAEL TETZLAFF