: Geschäft mit ideellem Wert
Wenn das Geld vom Sozialamt schon ausgegeben ist und die Bank keinen Kredit gibt, bleibt oft nur noch der Gang zum Pfandhaus
VON PATRICK BATARILO
Montag: Das Pfandhaus liegt etwas versteckt, im ersten Stock. Keine Ladenfront, nur ein gelbes Schild. Ein Rentnerpärchen und eine junge Türkin mit Kind steigen hastig die Treppe hinauf. Sie halten deutlich Abstand voneinander. Schämt man sich heute noch, wenn man zum Pfandleiher geht? Drinnen sieht alles sehr solide aus: ein kleiner, holzgetäfelter Raum, die Einrichtung bescheiden, in der Mitte eine Glasfront mit Schaltern wie in einer Bank. Hinter der Scheibe steht Klaus Grohmann, 60, im grauen, leicht abgetragenen Sakko. Es ist nachmittags, halb vier. Die Türkin hält ihren zappelnden Sohn an der einen Hand, mit der anderen reicht sie ihren Schmuck durch das Fenster. Hinter ihr warten zwei Männer in Bomberjacken, die vorsorglich den Staub von ihren Videorekordern abwischen.
Das „Leihhaus am Görlitzer Bahnhof“ in Kreuzberg ist das älteste der Stadt. Ein Familienunternehmen, 1875 von Karl Lehmann gegründet, heute von seiner Tochter Kristine und seinem Schwiegersohn geführt. An die tausend Kunden verpfänden hier im Monat Schmuck oder Technik – für durchschnittlich 240 Euro Darlehen. Zum Einlösen bleiben ihnen in der Regel acht Monate, dann kommt das Pfand unter den Hammer. Die Gebühren sind immens, wenn man sie aufs Jahr rechnet. Monatlich sind sie jedoch erschwinglich – bei hundert Euro Darlehen sind es 3,50 Euro.
Von Saturn am Alexanderplatz sind es fünfzehn Minuten hierher. Ist das der Weg, den die Waren der „Geiz ist geil“-Welt gehen? Billig gekauft, schnell wieder abgestoßen – ohne Vorstellung vom wirklichen Wert des Objekts? Schließlich lässt sich ja zum selben Spottpreis jederzeit etwas anderes nachkaufen. Das klingt gut als These. Aber im Moment sehen die Menschen hier – das Rentnerpärchen mit den abgetragenen Klamotten, die türkische Mutter, die nun auch den Walkman ihres Sohnes verpfändet – doch eher nach echter zeitloser Armut aus. Nur die Typen mit den Videorekordern könnten für eine neue deutsche Schuldenmentalität stehen. Für eine kreditlustige Generation ohne Sparneurose, die sich auf einmal in Schwierigkeiten wiederfindet. Mit zwei gelben Leihscheinen in der Hand verlassen die beiden das Pfandhaus. Mal sehen, ob sie wiederkommen.
Donnerstag: Halb zehn Uhr morgens. Geschäftsführer Grohmann blinzelt in den leeren Raum. Die Videorekorder sind nicht wieder abgeholt worden. Und von einer neuen Schuldenmentalität hat Grohmann in seinem Geschäft noch nichts mitbekommen. Er schüttelt den Kopf. Die Klientel sei über die Jahre dieselbe geblieben. Zwanzig Pfandhäuser gibt es in Berlin, im Westen der Stadt kamen in den letzten zwei Jahren nochmal vier Filialen dazu. Der Bedarf an Pfandleihern steigt also. Aber abgestürzte dotcoms, die ihre Rolex verpfänden, seien nicht dabei. Andere, beständigere Zyklen sind hier wichtiger: Der größte Andrang herrscht am Ende des Monats, wenn der Lohn zu früh aufgebraucht ist. Und im Januar, wenn die Versicherungspolicen für das neue Jahr bezahlt werden müssen.
Stefan und Mario, beide Anfang 20, sind heute die ersten Kunden. Sie tragen Trainingsjacken und offene Turnschuhe. Beide haben blasse Gesichter. Stefan reicht eine goldene Uhr unter dem Glas durch. Ein Geschenk, er will sie ganz sicher wieder einlösen. Grohmann betrachtet die Uhr nur flüchtig. Sie ist nichts wert. Aber er kennt Stefan. Schon seine Eltern waren hier, bevor sie vor ein paar Jahren beide ums Leben kamen. Er verleiht zehn Euro. In ein paar Tagen wollen die Jungs wieder hier sein. Bei zehn Euro Darlehen, werden sie dann 11,10 Euro zurückzahlen müssen.
Die Summe ist lächerlich gering. Was wollen sie mit so wenig Geld? Stefan ist arbeitslos. Eine Maurerlehre hat er abgebrochen, die Arbeit war ihm zu hart. Mit Geld kann er nicht haushalten, sagt er, und die nächste Überweisung vom Sozialamt kommt erst in einigen Tagen. Er war schon bei anderen Pfandleihern – aber da kriegt er nichts mehr, weil er seine Pfänder zu oft nicht eingelöst hat.
Als sie gegangen sind, zückt Grohmann ein Deospray und sprüht routinemäßig seinen Laden aus. Manche Kunden riechen eben etwas streng. Der enge Raum beginnt sich zu füllen. Und wofür das Ganze? Was ist die soziale Funktion eines Pfandkredits? Ein frühe Folge der „Simpsons“ fällt mir ein. Homer verpfändet darin seinen Fernseher, um für seine dysfunktionale Familie eine Therapie zu finanzieren. Nimmt man das ernst, dann wäre der Pfandleiher einer, der dem sozialen Rand das Startkapital in eine bessere Zukunft gibt. Herr Grohmann wäre eine Art Held – mit einer etwas zu feinen Nase.
Wieder Montag: Noch eine fiktive Pfandleiherszene. Als Catherine Deneuve in Truffauts Film „Die letzte Metro“ beschließt, ihren Schmuck einem Hehler zu verkaufen, um mit dem Erlös ihren jüdischen Mann vor den Nazis zu schützen, da rät ihr ein Freund, doch lieber zu einem Pfandleiher zu gehen. Die Konditionen seien besser und sie müsse sich nicht endgültig von ihrem Schmuck trennen. Interessant ist dabei vor allem die Komplizenschaft des Pfandleihers mit dem Halboffiziellen. Hier wird jeder bedient, schnell und unbürokratisch, auch diejenigen, die nicht am offiziellen Kreditkreislauf teilnehmen dürfen.
Auch Klaus Grohmann ist sich seine eigene Schufa. Er schätzt ein, wem er vertrauen kann, und macht seine eigenen Erfahrungen mit den Kunden, ohne die Formalitäten, mit denen die Banken ihre Kredite absichern. Stefan und Mario, die keine Aussicht auf ein Girokonto mit Dispo haben, profitieren davon. Wie auch die beiden jungen Türken, die in der Schlange stehen, um ihre Playstation zu verpfänden. Der Ausländeranteil liegt in den Kreuzberger Leihhäusern bei fast sechzig Prozent. Die Nachfrage hat ihren speziellen Grund: Ohne deutschen Pass ist es oft schwierig, bei einer deutschen Bank einen Kredit zu erhalten.
Im Fall der Türken kommt noch etwas anderes hinzu. Während sein Freund mit Grohmann über den Wert der Playstation verhandelt, berichtet Hakan, dass Pfandhäuser in der Türkei akzeptierter seien als in Deutschland. Junge türkische Paare erhielten zu ihrer Hochzeit einen Armreif, den sie in Notzeiten verpfänden könnten.
Aber auch Deutsche greifen inzwischen zu ähnlichen Mitteln. Grohmann erzählt von einem Handwerker, der eine wertvolle Uhr, die bereits einmal für eine hohe Summe von einem Leihhaus angenommen worden war, erworben hat. Als der Berliner Senat kürzlich die Rechnungen nicht bezahlen konnte, brachte der Handwerker die Uhr zu Grohmann. Und war so imstande, seinen Betrieb am Laufen zu halten.
Doch man darf nicht zu früh allgemeine Schlüsse ziehen. Nicht alle kommen aus Not ins Pfandhaus. Gerade betreten zwei etwas tuntige Montenegriner mit Nadelstreifensakkos und gegelten Pferdeschwänzen den Raum. Ihr Geld verdienen sie mit Transvestitenshows. Und warum sind sie hier? Der eine der beiden lächelt breit. Sie wollen ihren Goldschmuck verpfänden – nicht etwa wegen eines Darlehens, sondern weil er im Pfandhaus sicherer aufbewahrt ist als zu Hause.
Mittwoch: Was wird aus nicht eingelösten Pfändern? Ungefähr einmal im Monat lässt Grohmann Kisten packen und fährt zum Auktionshaus Pampus in Neukölln. Stefans goldene Uhr wird nicht dabei sein, er hat noch eine Frist von mehreren Monaten bei Grohmann.
An hufeisenförmig aufgestellten Biertischen, die mit Plastikplanen bespannt sind, sitzen bei Pampus etwa dreißig Männer, alle Händler. Die meisten tragen schwarze Lederjacken – ein bisschen wie der Stammtisch eines Kleinganovenvereins. Dazwischen einige Rentnerinnen, die auf ein Schnäppchen hoffen. Auf Tabletts werden die Objekte – meist Schmuck, aber auch DVD-Player oder Kameras – herumgereicht. Pampus selbst steht vorne und keift die Gebote herunter. Er redet sich so in Fahrt, dass er sein grau kariertes Sakko ablegen muss. Die Händler im Raum lässt das kalt. Ihre Gebote sind niedrig, man merkt schnell, dass sie sich abgesprochen haben.
Auf den Tischen überall dieselben Werkzeuge: Taschenrechner, Waagen, Lupen. Ein hagerer Typ mit schwarzem Rollkragenpulli begutachtet einen Ring. Sein Blick ist derselbe Blick, mit dem Grohmann im Pfandhaus die Objekte taxiert. Ein schneller, geübter Blick, der einen Gegenstand aller persönlicher Spuren entkleidet und ihn auf eine einzige Dimension festschreibt – seinen Wiederverkaufswert. In diesem Fall winkt der Experte enttäuscht ab. Der Ring ist uninteressant. So weit am Ende der Pfandkette sind die Geschichten, mit denen die Objekte einst dem Pfandleiher übergeben wurden, nur noch ironische Zitate: „Da war die Oma bestimmt traurig, als sie den weggegeben hat!“ Freundlich, geschäftstüchtig sorgt man dafür, dass die Dinge in einen zweiten Warenkreislauf Eingang finden.
Donnerstag: Es gibt nicht nur wieder mehr Leihhäuser als früher in Berlin – zwanzig statt fünfzehn wie noch vor ein paar Jahren –, auch die Kundenzahlen wachsen. Stephan Goebel, Vorsitzender der Vereinigung Privater Pfandkreditbetriebe Mitteldeutschland, führt diese Entwicklung auf das verbesserte Image der Pfandhäuser zurück. Er spricht mit Verve von offenen Ladenfronten und gewachsenem Selbstwertgefühl. Dass die Pfandhäuser von wirtschaftlichen Krisen profitieren, will er nicht gelten lassen. Sicher, den Leuten müsse es schlecht gehen, damit sie kommen. Aber auch nicht zu schlecht – sonst würden die Pfänder nämlich nicht mehr eingelöst. Und das ist schlecht für den Pfandleiher – denn der verdient an den Zinsen, nicht an den Versteigerungserlösen. Doch der Anteil der nicht eingelösten Objekte ist in den letzten Jahren von acht auf über zehn Prozent gestiegen. Ist das nun ein Hinweis auf eine neue Wegwerfmentalität oder ein Indiz dafür, dass es den Leuten objektiv schlechter geht?
Herbert, 52, hat dazu seine eigenen Ansichten. Er lacht vergnügt, als er die wie immer volle Pfandleihe betritt. Es ist halb drei, Herberts Atem riecht nach Alkohol. Wenn er gegangen ist, wird Grohmann vermutlich wieder sein Deospray zücken. Einmal im Monat verpfändet Herbert seine Gitarre. Herbert ist keiner, der Leihhausbesuche als Familientradition weiterführt. Bis vor einigen Jahren war er Inhaber einer Montagefirma. Doch trotz des Berliner Baubooms ging er Ende der Neunziger Pleite. Mit den Schwarzmarktlöhnen konnte er nicht mithalten. Fällt es ihm leicht, hierher zu kommen? Herbert grinst nur. Es dauert immer einen ganzen Tag, bis er sich dazu durchringen kann.
Auch Stefan und Mario sind an diesem Tag ins Pfandhaus gekommen. Die Überweisung vom Sozialamt ist endlich da. Jetzt wollen sie ihre Uhr einlösen. Die ist ihnen wichtig. Wie übrigens fast alle, die hierher kommen, an ihren Gegenständen hängen. Wegwerfgesellschaft? Das Pfandhaus liefert keine Indizien dafür. Schon eher für die Wirtschafts- und Sozialkrise. Und wofür war nun das Geld? Stefan hat sich von den zehn Euro Lebensmittel gekauft. Nicht unbedingt eine Investition in die Zukunft. Eher eine in die Gegenwart.
PATRICK BATARILO, 29, ist freier Autor, lebt in Berlin und hat bei seinen Recherchen für den Artikel bei einer Pfandhausversteigerung einen kaputten DVD-Player erstanden