Spiegel der Verhältnisse

Die TV-Unterhaltung dient der Sozialisation moderner Individuen, meinte einst Niklas Luhmann. Da kannte er die neuen Reality-Formate noch nicht: Ein Plädoyer für ein Update der Systemtheorie

Im Reality-Format avancieren die Medien zur Avantgarde des Neoliberalismus

VON CARSTEN ZORN

Kaum war die fünfte Staffel von „Big Brother“ angelaufen, da tauchte auch der Vergleich mit den „Menschenzoos“ wieder auf. So ordnete Johanna di Blasi die Container-Show in der Frankfurter Rundschau noch einmal in die lange Geschichte der Zurschaustellung „exotischer“ Menschen ein. Bemerkenswert daran ist nur, dass selbst der Griff zum Menschenzoo-Vergleich nun auf einmal von dem Wunsch motiviert ist, eine möglichst abgeklärte Haltung zu all dem zu gewinnen, was da seit einigen Jahren im Fernsehen vor sich geht.

Das gelingt natürlich am besten, wenn man es – mit Niklas Luhmann gesagt – ins Gewöhnliche, Vertraute zurückbettet. „Mit dem Bedürfnis, andere Menschen zu nacktem Leben (Giorgio Agamben) zu reduzieren“, so dann auch di Blasi kühl, sei eben „immer zu rechnen“.

Tatsächlich muss man wohl vor allem damit rechnen, dass die Behandlung von Reality-Formaten sich künftig immer mehr an dieser Vorstellung orientieren könnte: dass man diese Produkte der aktuellen Post-Popkultur also dort zu fassen bekommt, wo sie so funktionieren, wie irgendetwas Vergleichbares „immer schon“ funktioniert hat: Menschenzoos, Theater oder Populärkultur.

Wenn am Reality-Fernsehen aber irgendetwas offensichtlich ist, dann doch wohl, dass sich das Problematische daran an Stellen festmachen lässt, an denen es sich eben ein bisschen anders verhält als all das, womit es sich auf den ersten Blick vergleichen lässt. Einfach gesagt: Wenn es genauso funktionieren würde, hätte es ja gar nicht erfunden werden müssen.

Es ist ja relativ leicht, eine allgemein gültige Beschreibung für das zu finden, was in allen Reality-Formaten geschieht. Ob „Fear Factor“, „Big Brother“, „Der Bachelor“, „Star Search“, „MTV DisMissed“, die Court-Shows, ein x- beliebiger nachmittäglicher Konfliktmanagement-Talk oder all die Ostalgie- und anderen Themen-Shows auch: Immer werden da offensichtlich mehr oder weniger real people (manchmal in Gestalt von Laiendarstellern) in Situationen gestellt, die heute in der Gesellschaft vorkommen, oder doch wenigstens so ähnlich vorkommen könnten – und wir können diese Leute dann dabei beobachten, wie sie damit umgehen. Ob Datings, Erinnerungen, Konflikte, Kritik, sehr oft und vor allem geht es dabei um psychische und körperliche Belastungen.

Aus Sicht der Medientheorie von Niklas Luhmann muss man all dies schlicht für ein sehr nahe liegendes Mittel halten, mit dem das „Unterhaltungssegment“ der Massenmedien seine Funktion erfüllt. Denn diese besteht nach Luhmann darin, modernen Individuen „Anhaltspunkte“ für deren „Arbeit an der eigenen Identität“ zu liefern. Und wie Luhmann in seinem Buch zur „Realität der Massenmedien“ zeigt, hat moderne Unterhaltung zu diesem Zweck schon immer mit künstlichen „Verdoppelungen der Realität“ gearbeitet. Demnach hätte man es beim Reality-Fernsehen einfach mit moderner Unterhaltung im Normalbetrieb zu tun.

Andererseits könnte man mit der Systemtheorie noch eine ganze Menge mehr sehen. Es gibt da nur ein Problem: Man müsste sie dafür zunächst einmal zu einer Theorie der neoliberalen Gesellschaft umbauen. Wo immer Systemtheorie die Beschreibungsroutinen mitbestimmt, müsste man sich also mal einen kleinen Schubs geben und eingestehen, wie plausibel doch eigentlich all die Beschreibungen sind, die gegenwärtig unter Titeln wie „Neoliberalismus“ oder „Kontrollgesellschaft“ von den derzeit ablaufenden gesellschaftlichen Veränderungen angefertigt werden – und dass in der Systemtheorie darum wohl auch – nun eben ohne Luhmanns Hilfe – mal wieder einiges umgestellt gehörte.

Unter neoliberalen Bedingungen dürfte eben auch von jeder Art gesellschaftstheoretischen Denkens ein bisschen mehr Flexibilität gefordert sein, wenn man denn an einigermaßen zuverlässigen Beschreibungen der Gesellschaft interessiert ist.

Wenn man nur wollte, dann ließe sich, was da zurzeit geschieht, mit der Systemtheorie ja nur zu gut verstehen. Die moderne Gesellschaft muss offenbar darauf reagieren, dass die Geschwindigkeit, in der sie sich ändert, im Laufe der letzten zehn, zwanzig Jahre noch einmal deutlich zugenommen hat. Und um die für sie daraus resultierenden Probleme zu lösen, experimentiert sie nun seit längerem schon mit neuen Problemlösungen, die – und das ist das Entscheidende – besonders hohe ökologische Kosten in Kauf nehmen. Kurz gesagt: Die moderne Gesellschaft versucht, die aus ihrer Dynamik resultierenden Probleme nun auf Kosten ihrer menschlichen Umwelt zu lösen.

Sie nimmt dort jedenfalls noch einmal deutlich mehr und andere Probleme in Kauf als zuvor. Denn alle neuen Problemlösungen unterstellen der menschlichen Umwelt – und setzen voraus, man weiß es ja längst – grenzenlose Disponibilität, Flexibilität etc. Was dagegen noch kaum verstanden scheint, ist, dass die neuen Problemlösungen auch einen ungekannten Motivationsbedarf hervorbringen.

Womit wir wieder zurück beim Reality-Fernsehen wären. Wenn in der sich da abzeichnenden Gesellschaft ein permanentes Motivationsdefizit droht, bieten sich Sendungen, die öffentliche Aufmerksamkeit für jedermann versprechen, gleich in mehrfacher Hinsicht als eine ziemlich zentrale Problemlösung an. Als Kompensationsangebot etwa: für alle, für die Flexibilität außerhalb der Container- und Casting-Shows eindeutig weniger einträglich ist. Vor allem aber als gleichsam sozial-anthropologische Versuchslaboratorien, in denen neue Motivationsmittel und Minimalstandards (siehe Liebe: der „Bachelor“) erprobt und also die beiden für diese Gesellschaft nun alles entscheidenden Fragen ergründet werden können: Wie viel (Überwachung, Flexibilisierungsdruck etc.) verträgt so ein Mensch eigentlich? Und könnte man ihm im Austausch dafür nicht noch weniger bieten als bisher?

Unter dem Reality-Regime sind die Massenmedien schon jetzt zur neoliberalen Avantgarde unter allen Systemen umgebaut worden. Hier ist längst alles realisiert, wovon Kontrollmacht und neoliberale Ökonomie bislang nur träumen: der Verzicht auf jeden Rest Stammbelegschaft, die Anpassung an Kundenwünsche in Echtzeit, permanente Kameraüberwachung. Und zu alldem die Illusion, sich in solchen Verhältnissen selbst verwirklichen zu können.

Vor allem aber wird das heute größte Problem aller Systeme, die Unvorhersehbarkeit auch der nächsten Zukunft, hier bereits ganz auf Kosten des Personals gelöst; dieses also radikal in time, je nach aktuellem Bedarf, ausgewählt und wieder fallen gelassen. Denn Reality-Unterhaltung kann, statt auf die Reproduktion von etablierten Berühmtheiten, nun auf ständige Neurekrutierung setzen – auf einen unerschöpflichen Vorrat disponibler Personen zurückgreifen, deren Biografien (Sex mit Bohlen), Fähigkeiten (Singen) oder Alltag (der von Detektiven, Polizisten, Arbeitslosen etc.) noch unentdeckte Potenziale für öffentliches Interesse und kurzzeitige Popularität bergen. Und zur Personalselektion steht ihr das schnellste Verfahren zur Verfügung, das moderne Mediendemokratien dafür bieten: die Abstimmung per Handy-Voting.

Das Gesellschaftssystem scheint sich, in Reaktion auf neue Probleme und Herausforderungen, also wieder einmal fundamental zu verändern – und auf die Probleme, die all dies für die Menschen in seiner Umwelt bedeutet, erst einmal nur mit Notprogrammen zu reagieren. Solange es eben geht.

Den Reality-Formaten aber könnte für die laufende Veränderung am Ende eine ebenso bedeutsame Rolle zukommen, wie das Gefängnis sie nach Foucaults Analysen einmal für die Herausbildung der Disziplinargesellschaft spielte. Nur, dass die neuen Versuchslabore ihre Teilnehmer eben mit öffentlicher Aufmerksamkeit locken, während die sozialen Experimente im Laboratorium der Disziplinargesellschaft noch allein unter Anwendung von Zwang möglich waren.

Davon abgesehen aber sind die Ähnlichkeiten frappierend. Man muss sich nur einmal die Gründe vergegenwärtigen, die seit dem Ausgang der frühen Neuzeit dafür sorgten, dass die Gefängnisse sich füllten. Und sich dann fragen, worauf der riesige Bewerberzulauf wohl zurückzuführen ist, dessen sich gegenwärtig selbst ein so abgewracktes Format wie „Big Brother“ noch immer erfreuen darf.

Als die marxistische Theorie die Denkmittel erster Wahl stellte, wusste man noch sehr drastisch zu schildern, womit in Phasen zu rechnen ist, in denen die Gesellschaft unter anderem „vor der Arbeit nicht den Glauben an die Wirklichkeit dieser Arbeit zu produzieren“ vermag (Alexander Kluge/Oskar Negt, „Geschichte und Eigensinn“). Beobachtet hatte man es damals vor allem „am Übergang von vorindustrieller Produktionsweise zu industrieller in der Ratlosigkeit derjenigen Menschen, die aus ihrem ursprünglichen Produktionszusammenhang herausgerissen sind und keineswegs sofort, auch nicht in extremer Notlage, den Ausweg, Lohnarbeiter zu werden, finden“.

Die Autoren zitieren dazu eine Untersuchung aus den Siebzigern: „So wie Hunderttausende von Bettlern, Vagabunden und Strolchen – zum überwiegenden Teil ihrer ursprünglichen Existenz beraubte Menschen – sich eher einsperren ließen oder verhungerten, als ihr Leben als Lohnarbeiter zu fristen.“

Der Autor ist Politik- und Kulturwissenschaftler und schreibt zurzeit ein Buch zum „Populären der Kontrollgesellschaft“