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Archiv-Artikel

Muskelkater in den Waden

Hängen, starren, raten, jubeln. 25.000 versuchen auf dem Bremer Domplatz, vom Unglaublichen einen Blick zu erhaschen. Werder wird Meister, wie die taz prophezeit hat. Und plötzlich zupft Tim Borowski am Arm, fragt: „Kann ich mal durch?“

„Wir haben heute fast nur Zitrone und Waldmeister verkauft“, sagt der Eisverkäufer

aus Bremen Dorothea Ahlemeyer

Licht! Ganz klein nur, ein Stern der plötzlich aus dem blaugrauen Abendhimmel kracht. 15.000 Köpfe recken sich, noch einmal den Muskelkater in den Waden füttern, noch einmal hoch auf die Zehenspitzen. „Sind sie das, Jaquelin?“ Jaquelin kann nur noch nicken und wild mit den Armen fuchteln. Auf den Schultern vom Zweimeterpapa ist sie eine der wenigen, die noch den Überblick haben. Werder landet und das Rollfeld hebt ab. „Was passiert, Jaquelin?“ Schals und Arme fliegen nach oben, Bierschaum auch, Gedränge nach rechts, nach links, hinten, vorne, Jaquelin muss schreien: „Sie stehen jetzt auf der Brücke, Schaaf spricht!“ Grün-weiß-oranger Jubel, dann Fragezeichen in tausend Gesichtern: Sind das da oben nicht auch nur Fans? Egal! Trotzdem grölen und zwischendurch den grinsenden Kopf schütteln: „Was sind wir naiv gewesen!“

Naiv zu glauben, um halb neun erwische man noch einen Platz in der Straßenbahn zum Flughafen und könne Ailton persönlich auf die Schultern springen. Naiv zu glauben, man würde am Domshof tatsächlich was vom Spiel sehen.

„Ich gebe es zu, so richtig gerechnet habe ich mit diesem Spektakel nicht“, sagt ein Döner-Mann. Das 3:1 im Vorfeld hatte er sogar getippt, trotzdem geht ihm schon um sieben das Bier aus. Er war nicht der einzige, der nicht recht an den Fall der Fälle glauben wollte. Die Stadtverwaltung traute sich ebenfalls nicht, von der verfrühten Meisterschaft zu träumen, plante keine Extrabahnen zum Flughafen ein und lässt bis um zwei noch Marktstände auf dem Domshof stehen. Aber der Alltag war Samstag schon mittags vorbei. Sagt Steffi.

Die versucht zu der Zeit in der Stadtbibliothek, den Spiegel zu lesen. Da dringt das erste „W auf dem Trikot“-Gegröle des Tages durch die Mauer, die Leute legen Politmagazine und Handelsblatt weg und streiten sich um den Kicker. Auf den Straßen räumen zur selben Zeit Verkäufer Stände mit Meistersekt vor die Tür und Greenpeace-Aktivisten werden abgeknutscht, weil sie Spruchbänder in Grün-Weiß haben. Grün-weiß sind auch die meisten Straßenbahnen, die in der Fußgängerzone verkehren, die Bänder, an denen die Marktmetzger ihre Schinken befestigen, die Schaufensterkleider von Nobelboutiquen im Viertel. Mal ehrlich – Zufall? Der Eisdielenmann am Wulwesplatz grinst: „Quatsch. Wir haben heute fast nur Zitrone und Waldmeister verkauft. Ganz Bremen denkt jetzt grün-weiß.“

So richtig entziehen können sich am Samstag selbst eingefleischte Fußballhasser dem Spektakel nicht: „Eben im Supermarkt standen ein paar bierbepackte Jungs aus Buxtehude vor mir an der Kasse, und stellten plötzlich fest, dass sie ihre Kohle vergessen haben. Da habe ich ihnen aus Solidarität den Kasten gekauft“, sagt einer, der vor dem großen Tumult eigentlich nur kurz einen Kakao schlürfen wollte – und sich dann zu Hause einschließen. Drei Stunden später steht er doch auf den Domtreppen und reißt die Arme nach oben. Vom Spiel sieht er allerdings wenig, geht auch nicht am Domshof. „Einmal im Leben lohnt es sich, einen Kopf größer zu sein, als die meisten Frauen“, sagt eine extra angereiste Oldenburgerin, die sich außerdem über die Plauze ihres Hintermanns freut – die federt im Gedränge und Gestubse so gut. Einen Muskelkater vom Auf-dem-Zehenspitzen-Stehen wird sie trotz ihrer 1,80 Meter die nächsten Tage auskurieren müssen.

Besser ist die Sicht etwa in Pekka Lagerbloms Stammkneipe „Cassa del Café“ am Buntentorsteinweg, wo Chef Cosimo nach dem Sieg Prosecco auf Kosten des Hauses ausschenkt. Sitzplätze gibt allerdings nur mit Reservierung, dafür läuft die Bedienung im Trikot auf und außerdem kann man hier auf Fußballprominenz treffen. Der ehemalige Werder-Amateur-Stürmer und Torwarttrainer Jens Stöver fläzt schon Stunden vorm Spiel beim Vollblut-AC-Mailand-Fan Cosimo rum und ist sich des Happy-Ends sicher: „Werder surft auf einer Spaßwelle. Ich war gestern noch beim Abschlusstraining, die Stimmung und der Zusammenhalt in der Mannschaft spricht einfach für sich.“

Zusammenhalt: 70-jährige Bibliothekarinnen liegen sich mit pubertierenden Pitt-Bull-Shirts-Trägern in den Armen, Polizisten sind vom bloßen Mitgrölen heiser. Eine Stadt nur voll Gewinner? Fast. Für die vier Klofrauen vom McDonalds an der Domsheide, die sich außer vollgepissten Fliesen jede Menge doofer Sprüche gefallen lassen müssen, ist der Tag fast so ätzend wie für die einsamen Bremer Bayernfans. Per Telefon hat sich der eine oder andere davon morgens noch irgendwo bei ausgeflogenen Werderfans ein Zimmer mit Premiereanschluss organisiert und dieses für den Rest der Nacht nicht mehr verlassen.

Werder jedenfalls hat gewonnen, und auch Jaquelin und ihr Zweimeterpapa. Die sind schon fast auf dem Heimweg vom Flughafen, als sich plötzlich dieser Typ von hinten vorbeischiebt: „Kann ich mal durch?“ Zweimeterpapa will fast motzen, da sieht er, dass der Typ Tim Borowski ist. Und, dass er irgendwie direkt vor den Werderbus geraten ist. Klasnic sitzt hinten und tippt auf seinem Handy rum. Scherf drückt Schaaf.

Und dann ist da noch Ailton. Der zieht im Minutentakt T-Shirts an und aus und schmeißt sie in die Menge. Ach, Toni!