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Archiv-Artikel

Lost in der Mädchen-WG

Wenn die Welt die Lesbarkeit verweigert: Matthias X. Obergs Film „Stratosphere Girl“ erzählt die Geschichte einer Heldin, die ihr eigenes Verschwinden erlebt. Wenn die Zeichen aufhören zu sprechen, wird die Realität zum alles verschlingenden Strudel

von Daniel Wiese

Die Filmförderung Hamburg hat ein glückliches Händchen für Talente. Das zeigt sich nicht nur am Berlinale-Helden Fatih Akin, den sie von Anfang an begleitet hat. Auch beim Filmemacher Matthias X. Oberg hatten die Förderer den richtigen Riecher, wie sich spätestens jetzt an seinem Film Stratosphere Girl zeigt.

Obergs Erstlingsfilm Unter der Milchstraße, mit dem er 1995 den Max-Ophüls-Preis gewann, handelte von einem Schlafwagenschaffner, der quer durch Europa reist. Und auch die Heldin in Stratosphere Girl zieht es in die Ferne: nach Tokyo, der magischen Stadt, dem undurchdringlichen Dschungel der Zeichen.

Stratosphere Girl ist der Film, den Sofia Coppola mit Lost in Translation nicht gedreht hat, aber hätte drehen müssen, hätte sie den Filmtitel ernst genommen. „Manche Menschen stehen am Rande, und wenn sie nicht aufpassen, kann es sein, dass sie plötzlich verschwinden“, notiert die Heldin in Stratosphere Girl, und es ist klar, dass sie zu denen gehört, die vom Verschwinden bedroht sind.

Verloren gehen, das ist das Thema dieses Films. Das Stratosphere Girl, das eigentlich Angela heißt und genauso aussieht wie die Figuren der Manga-Comics, die sie unablässig zeichnet, sieht sich umstellt von Wänden aus Blicken, und sie weiß nicht, was diese Blicke bedeuten. Was wollen die Kunden in der Bar, wo sie als Hostess arbeitet? Was hecken die anderen Hostessen aus, mit denen sie in einer Mädchen-WG lebt?

Es sind die Blicke, die in diesem Film Rätsel aufgeben, viel mehr als die fremden Schriftzeichen oder die fremde Sprache. Wem kann man vertrauen, wie sind die Worte gemeint? Die Welt bietet sich der Heldin als geschlossene Oberfläche dar, die nicht gelesen werden kann. Insofern ist Tokyo, die Stadt mit den fremden Menschen und Lichtern, die Stadt der doppelstöckigen Autobahnen und engen Apartments, deren Wände nachgeben, wenn man dagegen stößt, nur eine Chiffre. Wenn die Welt nicht mehr lesbar ist, regieren nicht mehr die Zeichen, dann bleibt nur die physische Konfrontation. Die Realität sind die Scherben in Angelas Suppe, die machen, dass ihr das Blut aus dem Mund läuft; es sind die Hände der Kunden, die sie auf ihren Oberschenkeln spürt.

Was Obergs Film so großartig macht, ist, dass er diese Erfahrung nicht bloß behauptet, sondern konsequent inszeniert. Wie ein großer Strudel verschlingt Tokyo das Manga-Mädchen Angela, die zugleich die Heldin ihrer eigenen Comics ist. Die Verdopplung der Realität durch den Comic enspannt die Situation keineswegs, sie macht die Sache nur noch unheimlicher. Bestimmt der Comic die Realität, oder ist es umgekehrt? Angela weiß es nicht, genauso wenig wie der Zuschauer. Stratosphere Girl ist radikal in dem Sinne, dass er keine andere Perspektive als die von Angela bietet. Es gibt keine Rettung, nur den großen Moloch, der uns einsaugt.

Dabei trägt Angela, das Stratosphere Girl, ihren Namen nicht umsonst. „Du siehst aus wie ein Engel“, sinniert der undurchsichtigste ihrer Kunden, während er ihr durchs Haar streicht. Wie ein Engel, der aus der Stratosphäre auf die Erde gefallen ist, wo er eine Mission zu erfüllen hat. Nur leider ist diese Mission ein bisschen zu schwer.

Es gibt diese Albträume, aus denen man schreiend in dem Augenblick erwacht, in dem man sterben muss. Stratosphere Girl ist so ein Albtraum: Er führt einen bis vor die Pforte, durch die bei Strafe des Todes niemand hindurch kann.

Anders als Fatih Akins Gegen die Wand erregte Stratosphere Girl bei der Berlinale kein größeres Aufsehen, und lange sah es so aus, als würde der Film keinen Verleih finden. Zum Glück kommt er nun doch in die Kinos, wenn auch erst im Herbst. Bis dahin dürfte die heutige Vorstellung im Abaton die einzige sein, die in Hamburg zu sehen ist.

heute, 20 Uhr, Abaton, in Anwesenheit des Regisseurs