: Ratenzahlung statt Protest
Erst Anfang nächsten Jahres geht es richtig los mit Protesten gegen die Agenda 2010. Davon geht jedenfalls der Politikprofessor und Erforscher sozialer Bewegungen, Roland Roth, aus, der seine Thesen jetzt in Bremen vorstellte
Bremen taz ■ „Erfolgsbedingungen Neuer Sozialer Bewegungen“, so der Titel eines Vortrags, den der Politikprofessor Roland Roth am Samstag im Gästehaus der Universität hielt. An der Fachhochschule Magdeburg-Stendal forscht Roth seit langem zur Historie sozialer Bewegungen und den Bedingungen auf dem gesellschaftlicher Protest gedeiht – oder auch nicht.
taz: Zum Thema soziale Bewegung fallen einem zurzeit die Proteste gegen die Agenda 2010 ein. Wirklich koordiniert wirken sie nicht. Woran liegt das? Roland Roth: In der Tat ist der Protest zersplittert und zerfällt in viele Gruppen, die Einzelinteressen verfolgen. Zahnärzte bangen um ihre Behandlungssätze, Rentner um ihre Ersparnisse. Solange der Protest in Einzelteile zerfällt, kann das der Regierung Schröder relativ egal sein. Ich denke aber, dass die großen Proteste erst kommen, wenn zum Beispiel mit der Umsetzung von Hartz IV sehr viele Menschen persönlich betroffen sind, die jetzt Arbeitslosenhilfe beziehen und dann nur noch das so genannte Arbeitslosengeld II bekommen.
Warum sind sie jetzt noch nicht auf der Straße? Haben sie noch nicht gemerkt, wohin der Hase läuft? Roth: Das ist sicher ein Grund, dass die neue Sozialgesetzgebung in ihrer ganzen Härte noch gar nicht erfasst wurde – übrigens auch nicht von denen, die in den Parlamenten darüber abgestimmt haben, wie ich glaube. Das andere Problem ist ein Stellvertreterproblem. Die Menschen, die von der Agenda 2010 betroffen sind und sein werden, haben als Vertretung im Grunde die Wohlfahrtsverbände. Die sind aber selbst vielfältig eingebunden ins politische Geschehen und können grundsätzliche Kritik nicht mehr ohne weiteres formulieren.
Sie sitzen im wissenschaftlichen Beirat von Attac, einer der auffälligsten sozialen Bewegungen der letzten Jahre. Auch Attac aber hat es nicht geschafft, bei Alltagsthemen wie der Gesundheitsreform Fuß zu fassen und Unzufriedenheiten zu bündeln und zu mobilsieren. Roth: Das ist leider richtig. Attac hat tatsächlich hauptsächlich beim Thema Globalisierung gepunktet. Und auch das war eine Frage der Leerstelle. Bis Attac kam, hatte dieses Politikfeld noch niemand besetzt. Das ist ja in der Gesundheitspolitik ganz anders, da gibt es vielfältige Vertretungen, von den Krankenkassen und Ärzteverbänden bis zu Patientengruppen.
Sie sprechen jetzt von der Seite der Institutionen. Hat sich nicht auch in der gesellschaftlichen Mentalität etwas geändert? Es scheint, als sei es mittlerweile sehr viel attraktiver, nach Ärzten zu suchen, die beim Zahnersatz auch Ratenzahlungen anbieten, als auf die Straße zu gehen, weil man gegen eine Gesundheitsreform ist, bei der man wieder am Gebiss sieht, wer arm ist. Roth: Es gibt da tatsächlich einen gewissen Pragmatismus in der Gesellschaft. Ich denke aber, es hat auch damit zu tun, dass die von Sozialabbau und von der Agenda 2010 Betroffenen einer anderen Schicht angehören, die es nicht gewöhnt ist, ihren Protest politisch zu äußern. Das war ja bei den klassischen sozialen Bewegungen, die von einer gebildeten Mittelschicht getragen waren und Themen wie Frieden, Frauen und Atomkraft hatten, ganz anders. Aber, wenn Sie sich erinnern, dann haben die Arbeitslosenproteste in den späten 90er Jahren nicht wenig dazu beigetragen, dass es in der Bundesrepublik einen Wechsel zu Rot-grün gab. Da gibt es also durchaus ein Potential.
Damals war aber ein Politikwechsel in Richtung mehr soziale Gerechtigkeit in Sicht. Heute würde man schlicht zurück zur CDU pendeln. Roth: Die Frage der Alternativen stellt sich in der Tat heute anders. Interview: Elke Heyduck