Rumsfeld ganz entspannt beim Rotwein

Die US-Regierung erzählt fiktive Geschichten von Massenvernichtungswaffen. Politische Thriller zeigen anhand von literarischen Planspielen, was in der Realität möglich wäre. In Potsdam diskutierten Kulturwissenschaftler, ob sich die Diskurse von Politik und Krimis also einander angleichen

Zunächst klang es nicht sonderlich aufregend. „Under Cover – Literarische Ermittlungen zum Thriller“ lautete der Titel der Tagung am Potsdamer Einstein Forum, und als der Hausphilosoph Rüdiger Zill seinen Beitrag ausgerechnet mit einem Zitat von Vilém Flusser eröffnete, sah alles nach einem gepflegt langweiligen Gedankenaustausch und einigen gediegenen kulturwissenschaftlichen Pointen aus.

Doch Flussers kleine etymologische Betrachtung, die das Wort „Diskriminierung“ auf seine lateinische Wurzel „crimen“ zurückführte, führte zu einer interessanten Ausgangsfrage. Wenn nämlich Identität im Sinne Flussers als Akt der Diskriminierung immer „die Folge eines Verbrechens ist“, so darf man im Umkehrschluss vermuten, dass jede Geschichte, die von einem Verbrechen erzählt, auch etwas über Identität verrät. Tatsächlich nannte Arthur Conan Doyle eine seiner ersten Sherlock-Holmes-Geschichten „Eine Frage der Identität“, und so findet man die obsessive Begeisterung für Masken und Verkleidungen, die sich durch die gesamte Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts zieht, auch in den frühen detective novels und Kriminalerzählungen wieder: Arséne Lupin, schrieb Maurice Leblanc über seinen „Meisterdieb“, habe sich zuletzt aufgrund seiner zahlreichen Rollenwechsel selbst nicht mehr im Spiegel erkannt.

Aus heutiger Sicht interessanter sind allerdings die ersten Spionageromane, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschrieben wurden. John Buchan zum Beispiel lässt in seinen Richard-Hannay-Romanen – „39 Stufen“ aus dem Jahre 1915 ist der bekannteste – sowohl den Helden als auch seinen Gegenspieler in immer neue Verkleidungen schlüpfen. Hinter den wechselnden Identitäten der Figuren und dem Verwirrspiel um einen deutschen Spion, der sich seiner englischen Umgebung perfekt anpasst, verbirgt sich die damals drängende Frage nach der nationalen Identität Großbritanniens. Das Genre selbst wurde dabei zur Tarnung: Geschickt kleidete John Buchan seine patriotischen Überzeugungen in das vermeintlich unschuldige Gewand der Unterhaltungsliteratur.

Vermutlich wäre es interessant gewesen, von hier einen Bogen zum amerikanischen Thriller der Gegenwart zu spannen. Auch Bestsellerautoren wie Tom Clancy oder Vince Flynn fühlen sich bekanntlich dem Dienst am Vaterland verpflichtet und schicken ihre Helden immer wieder aufs Neue in den Kampf für ein besseres Amerika. Im Einstein Forum sprang man jedoch zunächst in die Siebzigerjahre – und wechselte in ein anderes Medium über. Eva Horn, Literaturwissenschaftlerin an der Viadrina in Frankfurt an der Oder, führte am Beispiel von Sidney Pollacks Film „Die drei Tage des Condor“ vor, wie sich die Diskurse der Politik und des Thriller einander angleichen.

Die Autoren der politischen Thriller bilden in ihren Romanen und Drehbüchern nicht die Realität ab, sondern zeigen anhand von literarischen Planspielen, was möglich wäre. Genau das Gleiche, so Eva Horn, macht der Geheimdienst. „We have no plans, we play games“, beschreibt einer der CIA-Mitarbeiter in der letzten Szene des Films das Vorgehen seiner Behörde, die anhand der konspirativ gewonnenen Erkenntnisse immer neue Szenarien für politische oder militärische Interventionen entwirft. Wenn sich also eine Unterabteilung des amerikanischen Geheimdienstes in Pollacks Film als „Literaturgeschichtliches Institut“ tarnt, kommt das der Wirklichkeit recht nahe: Auch die CIA arbeitet mit Fiktionen.

Zu Unrecht wurde darum die Forderung eines Zuhörers, mit der Analyse der Kriminalliteratur den „Königsweg in die Wirklichkeit“ einzuschlagen, von den in Potsdam versammelten Wissenschaftlern mit einem müden Lächeln abgetan. Schließlich könnte man gerade bei einem Thriller wie „Die drei Tage des Condor“ den Blick für eine zunehmend fiktiver werdende Politik schärfen – zum Beispiel hinsichtlich der frei erfundenen Massenvernichtungswaffen, mit denen der amerikanische Feldzug gegen den Irak legitimiert wurde. Die Informationen, die die CIA und der britische Geheimdienst ihren Regierungen lieferten, hätte sich auch Tom Clancy nicht besser ausdenken können. Und auch die Fotos, die die Misshandlung irakischer Kriegsgefangener zeigen, sind keine Landser-Schnappschüsse, sondern vermitteln den Eindruck einer professionellen Inszenierung – und sind darum konsequenterweise längst Kunsthistorikern und Filmkritikern zur Begutachtung übergeben worden.

Die aktuelle Nachrichtenlage wurde bei der Tagung im Einstein Forum allerdings nur während der abendlichen Pause bei einem Glas Rotwein und einigen Käsestangen diskutiert. Auch das ist wohl eine Folge der Fiktionalisierung von Politik: Ein Gespräch über George W. Bush und Donald Rumsfeld wirkt heutzutage ebenso so entspannend wie die Lektüre eines guten Kriminalromans. KOLJA MENSING