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Archiv-Artikel

Wie man den Krieg der Ideen verliert

Nicht das Wissen um die Folter, erst die Bilder aus Abu Ghraib haben einen Aufschrei ausgelöst – auch in den USA. Anwälte und Sozialarbeiter, die mit dem US-Strafvollzug zu tun haben, sind allerdings keineswegs überrascht. Misshandlung von Gefängnisinsassen ist dort kein Karrierehindernis

Menschenrechte exportiert Bush erst dann, wenn das Gute gesiegt hatKleinlaut kündigt Rumsfeld Aufnahmen misshandelter nackter Frauen an

VON ANDREA BÖHM

Manchmal zieht das Pentagon mit seinen guten Absichten nicht nur in den Krieg, sondern auch ins Kino. Im Herbst 2003 zeigte das Directorate for Special Operations and Low Intensity Conflict ausgewählten Offizieren und Experten „Die Schlacht um Algiers“, den Filmklassiker über den Kampf algerischer Nationalisten gegen die französische Kolonialmacht. Erstere verübten Terroranschläge, wie man sie heute im Irak sieht, letztere reagierte mit Folter, Exekutionen, Massenverhaftungen. Die französische Armee siegte in Algiers, Frankreich verlor am Ende Algerien. „Wie man eine Schlacht gegen den Terrorismus gewinnt und den Krieg um Ideen verliert“, stand auf der Einladung der Pentagon-Abteilung.

Im Herbst 2003 waren die US-Soldaten im Abu-Ghraib-Gefängnis (und nicht nur dort) längst dabei, den Krieg um Ideen zu verlieren. Das wusste damals auch schon, wer es wissen wollte. Amerikanische Zeitungen hatten längst dokumentiert, dass Terrorismusverdächtige in Afghanistan mit Schlägen, Schlafentzug, stundenlangem Knien mit verbundenen Augen, Fesselung in schmerzhaften Positionen und ähnlichen Methoden „weich gemacht“ werden. „Härtere Fälle“ werden ausgelagert in befreundete Polizeistaaten oder Diktaturen, wo herausgerissene Fingernägel und Elektroschocks zur Verhörpraxis gehören, die das amerikanische Außenministerium in seinem jährlichen Menschenrechtsbericht beklagt. Im Herbst 2003 wusste man auch, dass die Behandlung der enemy combattants auf Guantánamo Bay gegen die Antifolterkonvention verstößt. Aber nicht das Wissen um die Folter, erst die Bilder davon haben einen Aufschrei ausgelöst.

In den USA kennt inzwischen jeder das „Hi Mom, this is fun“-Lächeln der Gefreiten Lynndie England, die auf die Genitalien gefesselter irakischer Gefangener zeigt oder sie an einer Hundeleine herumzerrt. Dass ausgerechnet die (bislang) einzige Frau und der rangniedrigste Soldat unter den Beschuldigten zum Gesicht der Folter wird, zeigt, wie sich die militärisch und politisch Verantwortlichen die Aufarbeitung dieses Skandals wünschen: als medialen Exorzismus einiger weniger fauler Äpfel, die „unamerikanisch“ sind und Schande über das Land gebracht haben. Wenn man George W. Bush und Donald Rumsfeld in den letzten Tagen hörte, konnte man meinen, dass der Entzug der Staatsbürgerschaft die geeignete Strafe sei.

Dass England und die anderen bestraft werden müssen, steht außer Zweifel. Aber für den Hergang der Ereignisse im Abu-Ghraib-Gefängnis ist weniger die Biografie der Lynndie England aufschlussreich als die von Lane McCotter, den die New York Times am Wochenende in einem Porträt vorstellte: McCotter trat 1997 als Leiter das Strafvollzugs im Bundesstaat Utah nach dem Tod eines geisteskranken Insassen zurück, der zur Ruhigstellung 16 Stunden lang nackt an einen Stuhl gefesselt worden war. Er wechselte zu einer privaten Gefängnisfirma, die 2003 vom Bundesjustizministerium für unsichere Haftbedingungen und mangelhafte ärztliche Versorgung von Häftlingen abgemahnt wurde.

Kurz darauf beauftragte Justizminister John Ashcroft den Mann mit dem Wiederaufbau des Strafvollzugs im Irak, wo McCotter das Abu-Ghraib-Gefängnis wiedereröffnete. Diese Fakten besagen nicht, dass Lane McCotter etwas mit den Folterungen in Abu Ghraib zu tun hatte. Sie besagen aber, dass die Misshandlung von Gefängnisinsassen kein Karrierehindernis ist.

Die Einzigen, die in den USA angesichts der Fotos aus dem Abu-Ghraib-Gefängnis weder überrascht sind noch so tun, sind Anwälte, Sozialarbeiter und Geistliche, die von Berufs wegen mit dem amerikanischen Strafvollzug zu tun haben. Man muss nur im Internet www.hrw.org eingeben und auf der Webseite von Human Rights Watch die Rubrik „United States“ und „prison conditions“ anklicken, um Folgendes zu erfahren: Jeder zehnte männliche Gefängnisinsasse wird einer Studie zufolge im Verlauf seiner Haftzeit vergewaltigt – meist von Mithäftlingen, meist mit dem Wissen der Wärter. In einigen Frauenhaftanstalten sind ein Viertel aller Gefangenen Opfer einer Vergewaltigung durch Vollzugsbedienstete geworden.

Gefangene zwecks Diszplinierung stundenlang nackt stehen zu lassen ist im amerikanischen Strafvollzug herrschende Praxis. In manchen Haftanstalten werden neuen Häftlingen Säcke über den Kopf gezogen – angeblich, um zu verhindern, dass sie Aufseher anspucken.

Ende der Neunzigerjahre war in Texas ein Trainingsvideo für Vollzugsbedienstete in Umlauf, auf dem Häftlinge bei einer Drogenrazzia nackt über den Boden kriechen mussten, von Hunden gebissen und von Wärtern an Füßen zurück in ihre Zellen geschleift wurden. Ein Bundesrichter stellte den texanischen Strafvollzug für mehrere Jahre unter Bundesaufsicht, weil Wärter Gefangene systematisch misshandelten oder duldeten, dass Insassen von Mithäftlingen wiederholt vergewaltigt und als „Sexsklaven“ von Trakt zu Trakt verkauft wurden. Der Gouverneur in dem betreffenden Zeitraum war George W. Bush.

Im Strafvollzug von Illinois sitzen bis heute Gefangene aufgrund von Mordgeständnissen ein, die sie vor über 20 Jahren auf einem Chicagoer Polizeirevier nach Schlägen, Elektroschocks und Scheinexekutionen unterzeichnet haben. Der Tatbestand der Folter wurde in einem Untersuchungsbericht der Chicagoer Polizei aktenkundig gemacht. Doch kein Gericht hat es bislang für nötig befunden, die Urteile aufzuheben.

Die Polizisten, die damals mit den Verhafteten Russisch Roulette spielten, ihre Genitalien an Stromkabel anschlossen oder ihnen Plastiktüten über den Kopf zogen, waren zum Teil Vietnamveteranen. Sie hatten die Verhörtechniken „im Krieg gegen die Kommunisten“ gelernt und wähnten sich in Chicago in einem neuen „Krieg gegen das Verbrechen“.

Sie waren absolut überzeugt, im Kampf gegen das Böse auf der Seite des Guten zu stehen. Sie waren überzeugt, in einem gefährlichen Dschungel die notwendige Drecksarbeit zu verrichten, die ihre Landsleute billigen, von der sie aber nichts Genaues wissen. Genau das haben sie mit den amerikanischen Folterern von Abu Ghraib gemein.

Der Unterschied? Erstens: Im Zeitalter der digitalen Kamera kommt alles viel schneller heraus. Zweitens: Im Fall von Abu Ghraib hat nicht irgendein Staatsanwalt oder Revierleiter, sondern die Regierung der USA höchstselbst erklärt, sie entscheide, wer unter den Schutz der Antifolterkonvention fällt und wer nicht. Menschenrechte sind für die Bush-Regierung kein universal gültiges, internationales Konzept, dem man sich zu allen Zeiten unterordnet. Menschenrechte sind in ihren Augen ein flexibles, amerikanisches Konzept, das man exportiert, wenn der Boden bereitet ist. Soll heißen: Wenn das Gute über das Böse gesiegt hat. So lange zählt auch die Folter zum präventiven Arsenal Amerikas im „Krieg gegen den Terrorismus“.

Im Irak selbst ist bislang nicht der nationale Aufruhr gegen die amerikanischen Besatzer/Befreier eingetreten, den das US-Militär nach Veröffentlichung der Bilder befürchtet hat. Das lässt sich erklären: Unter den Kurden würden viele selbst gern ein paar Sunniten aus Saddams Baath-Partei nackt aneinander fesseln. Die Schiiten haben den amerikanischen Ungläubigen ohnehin alles zugetraut. Ihre etablierte Führung um Ajatollah Sistani empört sich entsprechend, wünscht sich aber insgeheim, dass US-Truppen ihr endlich den Amok laufenden Straßen-Imam Muktada al-Sadr aus dem Weg schießen. Jene Sunniten, die seit Monaten US-Soldaten, zivile Helfer und irakische „Kollaborateure“ ermorden, werden genau das weitertun – nun mit der Genugtuung, dass die USA moralisch disqualifiziert sind und militärisch erste Rückzugsgefechte einleiten. Anders ist es nicht zu interpretieren, dass die Stadt Falludscha einem ehemaligen General der Republikanischen Garden übergeben wird. Der großen Mehrheit der Iraker, die sich nichts sehnlicher wünscht als sichere Straßen, funktionierende Schulen, Wasser und Strom, ist vermutlich nicht nach Aufstand zumute, sondern nach einer kollektiven Depression. Der Aufruhr kann noch kommen, wenn eintritt, was Donald Rumsfeld bemerkenswert kleinlaut am Freitag vor wütenden Senatoren ankündigte: dass noch viele Fotos, auch Videos, auftauchen werden. Von Aufnahmen misshandelter, nackter Frauen im Abu-Ghraib-Gefängnis ist die Rede.

Was unter Saddam Hussein in diesem Gefängnis passiert ist, sei viel schlimmer als das, was auf den Fotos zu sehen ist, hatte Rumsfeld ein paar Tage zuvor erklärt. Er hat absolut Recht. Nur will er bis heute nicht begreifen, dass die USA die moralische Legitimität verspielt haben, dieses Argument ins Feld zu führen.

Ob Donald Rumsfeld diesen Skandal politisch überleben wird, gilt in Washington als fraglich. Er ist nicht der Einzige, dessen Rücktritt überfällig ist. Wer am Freitag die New York Times aufschlug, fand im Lokalteil den Fortgang des Folterskandals von Bagdad im Bundesgefängnis von Brooklyn. Laut Gerichtsklage haben Aufseher muslimische Insassen wiederholt verprügelt, sexuell missbraucht, ihnen Nahrung, medizinische Behandlung und Zugang zu Anwälten verweigert.

Bereits vergangenes Jahr hatte der Generalinspekteur des US-Justizministeriums die körperliche Misshandlung muslimischer Häftlinge in den USA nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 angeprangert. Sein Dienstherr John Ashcroft zog es vor, keine Strafverfahren gegen die Verantwortlichen einzuleiten.