: Eine Frage der Verantwortung
Stabilität muss der Maßstab der Irakpolitik sein – das Land darf weder zum Gegenstand transatlantischer Psychotherapie noch zum Modellversuch des Nahen Ostens werden
Die derzeitige Lage im Irak wird durch drei Aspekte bestimmt. Erstens erfährt die Besatzungsmacht immer weniger Zustimmung. Zwar gibt es ein geringfügiges Wirtschaftswachstum, Fortschritte bei der Stromversorgung oder beim Wiederaufbau der Polizei, doch schreiben viele Iraker das nicht den Besatzern zu. Diese stehen hier vor dem gleichen Problem wie andere Kolonialmächte der Vergangenheit: Je stärker sie gegen ihre Gegner vorgingen, desto größer wurde das Widerstandspotenzial.
Zweitens steht die Mehrheit der Iraker nicht aufseiten der radikalen Islamisten, der Kräfte des alten Regimes oder fremder Terroristen, die durch das Machtvakuum nach dem Sturz des alten Systems ins Land kommen konnten. Vielmehr haben Iraker, wann immer sie die Gelegenheit zu regionalen Wahlen hatten, moderate, gebildete und oftmals säkulare Persönlichkeiten als ihre Vertreter bevorzugt. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass Neigungen dieser Art sich nicht ebenso in landesweiten Wahlen durchsetzen würden. Daher sollte niemand allzu besorgt über die Ergebnisse solcher Wahlen sein, so sie überhaupt, wie geplant Ende 2004, Anfang 2005 stattfinden.
Drittens und weitaus beunruhigender ist, dass im heutigen Irak alle notwendigen Voraussetzungen für einen Bürgerkrieg vorhanden sind: bewaffnete Milizen, konfessionalisierte politische Konflikte und ein Mangel an legitimer staatlicher Autorität. All das muss nicht zwangsläufig zu einem Bürgerkrieg führen, doch hat eine ähnliche Verkettung von Faktoren in anderen Ländern schon zu Unruhen geführt.
Was also sollte aus europäischer Perspektive getan werden? Gemäß einem Zeitplan für das Ende der Besatzung sollte die internationale Staatengemeinschaft die schnellstmögliche Bildung einer legitimen Regierung im Irak beaufsichtigen. Für die Übergangszeit von Juli 2004 bis zum möglichen Wahldatum bieten die Vereinten Nationen weit mehr Legitimität als die USA und ihre Koalition. Innerhalb der nächsten Wochen ist es daher entscheidend, eine Resolution des UN-Sicherheitsrats zu erzielen, um den Rahmen für die sechs bis acht Monate nach dem 30. Juni 2004 zu stecken, an dem ein großer Teil der Macht an eine irakische Regierung übergeben werden soll. Wenn möglich, sollte dieser Termin gewahrt werden – nicht weil es ein idealer Zeitpunkt wäre, sondern weil praktisch alle irakischen politischen Gruppen begonnen haben, sich auf mehr Verantwortung in der Zeit nach der Autoritätsübertragung vorzubereiten.
Eine neue Sicherheitsratsresolution sollte einen „Brahimi plus“-Plan beinhalten, der Sicherheitsaufgaben von der Aufsicht über und Anleitung des politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbaus im Irak trennt. Ein UN-Hochkommissar oder Beauftragter hätte – entsprechend Brahimis Vorschlägen – unter anderem die Aufgabe, eine kommissarische Übergangsregierung einzusetzen, eine nationale Konferenz einzuberufen, die Regierung zu unterstützen und die Vorbereitungen zu den nationalen Wahlen im Jahr 2005 zu beaufsichtigen.
Dabei ist wichtig, dass die UN eigenständig auftritt und nicht als Verlängerung der Besatzungsmacht erscheint. Es wäre fatal, wenn etwa der UN-Repräsentant sich nur unter dem Schutz amerikanischer Panzer bewegen könnte. Deshalb ist der Aufbau einer kleinen, aber wirkungsvollen internationalen Sicherheitstruppe notwendig, die ausschließlich für den Schutz der UN-Mission verantwortlich ist. Diese Sicherheitskräfte wären eher polizeilicher als militärischer Natur. Länder wie Frankreich und Deutschland, die eine stärkere Rolle der UN im Irak fordern, könnten ihre Bereitschaft gegenüber den Vereinten Nationen sowie der Stabilisierung des Irak demonstrieren, indem sie sich einbringen. Auch auf einer von den UN einberufenen Geberkonferenz könnte die internationale Gemeinschaft ihr Engagement beim Wiederaufbau des Irak demonstrieren.
Gleichzeitig ist es notwendig, Iraks Nachbarländer in den Prozess des Wiederaufbaus einzubeziehen. Einige Länder wie Syrien und Saudi-Arabien nehmen eine wenig hilfreiche Position ein, da sie ihre Interessen durch einen amerikanisch kontrollierten Irak bedroht sahen. Es scheint daher sinnvoll, eine 6 + 4 + 1-Kontaktgruppe einzuberufen, in der die sechs Nachbarländer des Irak, die irakische Regierung und die vier Partner, die derzeit das Nahost-Quartett bilden (USA, EU, UN und Russland) vertreten sind. Diese Gruppe könnte sich zu einem Koordinationsforum für Themen gemeinsamen Interesses wie Grenzsicherheit, Terrorismus, Waffen und Drogenhandel oder organisierte Kriminalität und damit zu einem einfachen vertrauens- und sicherheitsbildenden Mechanismus entwickeln.
Auch einer weitaus umstritteneren Vorstellung sollte ernsthaft nachgegangen werden: nämlich bestimmte Einheiten der ehemaligen irakischen Armee wiederherzustellen. Die Besatzungsverwaltung hat diese Richtung in Falludscha und mit dem Aufruf an Offiziere der alten Armee, sich in die neuen Streitkräfte integrieren zu lassen, zum Teil schon eingeschlagen. Vermutlich könnte durch eine Wiedereinberufung ganzer Einheiten recht schnell eine angemessene Zahl irakischer Truppen für die Grenzsicherung bereitgestellt werden – und dafür, für Frieden und Ordnung in bestimmten Regionen zu sorgen, insbesondere in dem so genannten sunnitischen Dreieck, deren Bewohner sich besonders ablehnend gegenüber den fremden Truppen zeigen. Solche neu zusammengesetzten irakischen Armeeeinheiten müssten unter dem Kommando des irakischen Verteidigungsministeriums stehen, nicht unter dem der US- oder Koalitionskräfte.
Schlussendlich gibt es drei Dinge, die die USA und ihre europäischen Verbündeten unterlassen sollten, so sie überhaupt einen Beitrag zur Stabilisierung und zum Wiederaufbau Iraks leisten wollen. Zunächst sollten die USA nicht versuchen, den Irak zu einem Modell zu entwickeln. Der Wiederaufbau des Irak und der Versuch, ein besseres Regierungssystem zu errichten, ist schon schwierig genug. Die Aufgabe, das Land zu einem Modell für die ganze Region zu machen, dürfte die Kapazitäten lokaler Akteure weit überschreiten. Zweitens sollten die USA davon absehen, den Irak zu einem Brückenkopf für größere regionale Projekte zu machen. Jeder Versuch, den Irak etwa zum Ausgangspunkt für die Demokratisierung des „größeren“ Mittleren Ostens zu machen, würde die Nachbarn dazu provozieren, den Wiederaufbau und die Stabilisierung des Landes zu unterminieren. Drittens sollte der Irak nicht zum Gegenstand transatlantischer Psychotherapie gemacht werden. Die Risse zwischen den USA und Europa müssen gekittet werden. Kriterium dafür, was im und gegenüber dem Irak zu tun ist, kann aber allein die Frage sein, ob solche Politik der Stabilisierung des Landes und der Entwicklung eines verantwortungsbewussten Regierens dient. VOLKER PERTHES
Aus dem Englischen von Ute Eggert