: Die Union, die die Stadt fraß
aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER
Henriette van der Hecht leitet die Brüsseler Loge der Theosophischen Gesellschaft. An einem Abend im Frühjahr steht die sorgfältig ondulierte Dame im cremefarbenen Kostüm zwischen den angestaubten Gemälden und Erinnerungsstücken ihres Untermieters und erklärt den versammelten Gästen ihre schwierige Lage. „Humanismus ist ein Wesenselement der Theosophie“, sagt Madame Hecht mit leiser, gepflegter Stimme. Selbstverständlich fühle sie sich Marcel Hastir verpflichtet, der in dunklen Stunden der Theosophischen Gesellschaft unschätzbare Dienste erwiesen habe. „Doch den Auflagen der Stadtverwaltung können wir uns nicht entgegenstellen.“
Gestützt von zerschlissenen Plüschkissen sitzt auf dem Sofa in der ersten Reihe der mit diesen Worten umschmeichelte 97-jährige Maler. Mit unbewegter Miene nimmt er zur Kentnis, warum sich die Theosophische Gesellschaft gezwungen sieht, weitere Konzerte in seinem Atelier zu untersagen. Die versammelten Lokalpolitiker, Europaabgeordneten und Mitglieder des Ateliervereins hören ebenfalls höflich zu. Da springt in der hintersten Reihe plötzlich ein Mann auf. „Fuck, fuck, fuck!“, schleudert er der zierlichen Dame entgegen, die sich leicht auf die Deckplatte eines Flügels stützt. „Jeder weiß, dass es den Theosophen nur um die Kohle geht. Ihr wollt dieses Haus versilbern, jedes Mittel ist euch recht!“ Freunde aus dem Übersetzerdienst des Europäischen Rates führen ihren Kollegen David nach draußen. Hinterher sagt einer entschuldigend: „Er hat nun mal so eine schroffe Art, die Dinge auszudrücken. Aber in der Sache hat er Recht.“
Zwischen den gläsernen Bürofassaden des Europaviertels klemmt das Domizil des Malers Marcel Hastir wie ein brauner Zahnstummel in einem perfekten Gebiss. Im zweiten Stock hat der Künstler zwischen seinen üppigen Aktgemälden aus den 20er- und 30er-Jahren bis vor kurzem solche Benefizkonzerte und Informationsveranstaltungen veranstaltet, um das vom Abriss bedrohte Haus zu retten.
Auf den ersten Blick scheint es wenig bewahrenswert – die Fassade ist rissig, die Innenausstattung heruntergekommen. Es gibt anderswo in Brüssel schönere Beispiele für diesen neoklassischen Stil, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beim konservativen Bürgertum in Mode war. Seit Monaten streiten die für Brandschutz zuständige Behörde der Region Brüssel und das städtische Denkmalamt darüber, ob in dem Haus überhaupt Veranstaltungen abgehalten werden dürfen. Ausgerechnet hier, wo der Boden so teuer ist und der Kampf verloren zu sein scheint, formiert sich der Widerstand gegen die Zerstörung der gewachsenen Viertel.
Der alte Herr, der mit weißer, schulterlanger Mähne, zerbrechlich, aber hellwach, immer im Publikum saß, gilt vielen als Symbol des kollektiven Gedächtnisses dieser Stadt. Junge Künstler spielten hier, um Geld für die dringendsten Renovierungsarbeiten sammeln zu helfen. Nachbarn verkauften die Tickets und servierten Getränke. Doch der harte Kern der Bürgerinitiative besteht aus Eurokraten – Dolmetschern aus dem Übersetzerdienst des Rates.
Anfang April verschickte der deutsche EU-Beamte Horst Schröder an die Freunde und Förderer ein resigniertes Kommuniqué: „Die Polizei hat Marcel Hastir wegen einer Klage der Eigentümerin, der Theosophischen Gesellschaft, weitere Konzerte untersagt.“ Darin zeige sich eine „Undankbarkeit gegenüber der Geschichte“, denn der Maler habe den Theosophen während der Nazibesatzung in seinen Räumen Unterschlupf gewährt. Heute wolle die Gesellschaft daran nicht mehr erinnert werden und verhindere selbst die Brandschutzmaßnahmen, die sie bei der Polizei als Klagegrund geltend mache. Die Theospohen hätten nur den Profit im Sinn, den der Grundstücksverkauf an eine Bürofirma einbrächte.
Es ist kein Zufall, dass gerade deutsche EU-Beamte so viel Energie in die Erhaltung des Ateliers stecken. Brüssel hat unter deutscher Besatzung eine traumatisierende Zeit erlebt. In Hastirs Atelier trafen sich damals junge Widerstandskämpfer. Hier wurden Flugblätter vervielfältigt, und hier wurde der waghalsige Plan ersonnen, den 20. Deportationszug von Mechelen nach Auschwitz zu stoppen. Mehr als 200 Menschen konnten der Deportation in die Vernichtungslager entkommen.
Als Horst Schröder 1971 als Übersetzer bei der Kommission anfing, war die Europäische Union erst 13 Jahre jung. Das Misstrauen gegenüber den Deutschen legte sich nur langsam. Schon bald begann der drahtige Mann, dessen Französisch bis heute von einem kantigen deutschen Akzent geprägt ist, sich für die städtebauliche Entwicklung seiner Wahlheimat zu interessieren. Anders als die Mondlandschaften deutscher Nachkriegsstädte war die Brüsseler Innenstadt fast unversehrt geblieben. Wie Jahresringe legten sich das im 19. Jahrhundert gebaute Leopoldsviertel und die etwas später entstandenen Jugendstilensembles um den mittelalterlichen Innenstadtkern. Heute erinnert nur noch der Name des festungsähnlichen Ratsgebäudes an den vergeblichen Kampf.
Doch der rasch wachsende EU-Apparat verlangte nach immer mehr Büroraum. Die Baufirmen schlugen breite Schneisen in Europas schönste Jugendstilstadt. „Als das alles gelaufen ist, hatte Brüssel noch keine Regierung. Das waren 19 kleine Dörfer, sie sich gegeneinander ausspielen ließen und sich den Zumutungen widerstandslos auslieferten“, sagt Schröder bitter. Am Wochenende traf er sich damals mit Kollegen, um in der Justus-Lipsius-Straße Häuser auszubessern, die ihre Eigentümer absichtlich verkommen ließen.
Doch die Hauptstadt Europas hat ihre Geschichte in Bauschuttcontainer gefüllt und abtransportiert. Wer im Auto anreist, fährt durch Neubaulandschaften, Ödland und Tunnel direkt in die vierspurigen Windkankäle des Europaviertels. Wer den Zug benutzt, wird von den rußigen Wänden des Zentralbahnhofs begrüßt. Und wer sich von der Metrostation Maalbeek aus auf die Suche nach dem Europaparlament macht, verliert sich in Unterführungen oder auf schlecht beschilderten Rolltreppen. Der Parcours zwischen fehlenden Pflastersteinen und ungesicherten Baulücken ist ein Albtraum. Dabei werden in dem gläsernen Dom, der sich an Stelle der Brasserie Leopold nun hier erhebt, all die schönen Richtlinien beschlossen – für gute Lebensbedingungen behinderter Menschen zum Beispiel.
Ein Fernsehreporter, der erzählen soll, was man in Paris oder Berlin so denkt, stellt sich vor den Élysée-Palast oder den Reichstag, um seinen Zuschauern die Orientierung zu erleichtern. Neuigkeiten aus Brüssel werden optisch mit der staubfarbenen Fensterfront eines Bürohochhauses aus den 60er-Jahren kombiniert, wo die EU-Kommission provisorisch untergebracht ist. Zur Auflockerung schwenkt der Kameramann die Fahnen der Mitgliedsländer ab, die vor dem tunnelartigen Eingang wehen.
Hier residiert seit 1991 der Kommissionspräsident. Sein eigentliches Domizil, das – nur wenige Meter entfernt – nach dem dort einst idyllisch gelegenen Kloster Berlaymont benannt ist, würde sich für symbolbeladene Fernsehbilder viel besser eignen: Jahrelang war es wegen Asbestverseuchung in weiße Tücher gehüllt und den Blicken der Passanten ähnlich verborgen wie die Entscheidungsprozesse der Brüsseler Politiker.
Inzwischen sind die Hüllen gefallen, und jeder kann sehen, dass es mit der Renovierung nicht vorangeht. Die Kosten sind von geplanten 160 Millionen Euro auf 600 Millionen gestiegen, der Umzugstermin wurde schon mehrmals verschoben. Die belgische Justiz ermittelt wegen des Verdachts auf Missmanagement und Betrug.
Die Einheimischen glauben genau zu wissen, wer die sprichwörtliche „Brüsselisierung“ der einst schönsten Jugendstilstadt Europas zu verantworten hat. Für die Bewohner der kleinen Straßen rund ums Parlament, deren vertraute Nachbarschaft abgerissen wird, sind die Eurokraten schuld. In den Stadtteilinitiativen wird dieser Mythos gern gepflegt: Die Luxus-Ausländer treiben die Immobilenpreise in die Höhe, scheren sich nicht um gute Nachbarschaft, lärmen dann auch noch die ganze Nacht im irischen Pub, wenn rechtschaffene Leute schlafen wollen. Meldungen wie jüngst von dem Kommissionsbeamten, der illegale Einwanderer zu Wucherpreisen in einer Brüsseler Immobilie unterbrachte, verstärken diese Vorurteile.
Anne-France Rihoux, die den Dachverband der Initiativgruppen leitet, beteiligt sich nicht an solchen platten Schuldzuweisungen. „Die Politiker haben Brüssel wie eine Milchkuh behandelt.“ 50 Jahre lang hätten flämische Christdemokraten katholischen Banken die dicksten Brocken für den Bau der EU-Gebäude zugeschoben. Diese Bürohäuser hätten bis heute extraterritorialen Status. Die Folge: Niemand kontrolliert, ob etwa mehr Parkplätze gebaut wurden als genehmigt. Weder Immobilien- noch Bürosteuer wird fällig. „Die Belastungen müssen die einzelnen Gemeinden tragen, doch den finanziellen Vorteil hat nur der Staat.“
Zwar gibt die Föderalregierung einen Teil der Einnahmen an die 19 Brüsseler Gemeinden und an die 1989 geschaffene Region Brüssel weiter. Vor 15 Jahren wurden 50 Millionen Euro pro Jahr überwiesen, inzwischen immerhin das Doppelte. Doch damit können nach Überzeugung von Rihoux die Belastungen nicht ausgeglichen werden. Die Polizei zum Beispiel habe viel zu wenig Personal. Niemand wolle in Brüssel arbeiten. „Wenn noch mehr Gipfel hier stattfinden, nehmen die Risiken weiter zu. Ich bin gespannt, wie unsere Polizei mit wirklich harten Demos zurechtkommen wird.“ Eine Studie schätzt, dass 500 Millionen Euro jährlich nötig wären, um aus Brüssel eine ansehnliche, sichere und lebenswerte europäische Kapitale zu machen.
Auch die europäischen Institutionen spielen nach Überzeugung von Rihoux „ein schmutziges Spiel“. Sie kämpften für hohe Umweltstandards und menschenfreundliche Stadtlandschaften in den Mitgliedsländern der Gemeinschaft, verschlössen aber die Augen vor den Missständen vor ihrer Haustür. Die schwache Verhandlungsposition dieser Region, die bis heute 19 verschiedene Kirchturmpolitiken berücksichtigen muss, werde schamlos ausgenutzt. „Europa hat die Möglichkeit vertan, sich in Brüssel ein Symbol moderner, zukunftsgewandter Politik zu schaffen.“
Kommissionspräsident Romano Prodi hat gemeinsam mit dem belgischen Premier Guy Verhofstadt Künstler und Intellektuelle eingeladen, sich über die Zukunft von Europas Kapitale Gedanken zu machen. Ihre in einer Broschüre gesammelten Anregungen geben wenig Anlass zu Optimismus. Der niederländische Architekt und Stadtplaner Rem Koolhaas warnt davor, dass die „Megalomania“ der Bürobauer die Bewohner traumatisiere und die Idee von Europa unter Beton begrabe.
Marcel Hastir und seine Mitstreiter wehren sich gegen die Megalomania. Sie haben den König um Hilfe gebeten, die höchste belgische Instanz. Die rue du Commerce 51 ist ihr Symbol für ein geschichtsbewusstes Europa mit menschlichen Dimensionen. Ein paar Straßen weiter aber rollen die Bagger.