: Eltern sind jetzt die neuen Schuldigen
Kinderschutzbund lehnt Debatte um Hauptschul-Eltern als Diffamierung ab. Restriktionen verschlimmern nur die Lage der Kinder
Den Anfang machte vor drei Wochen die neue „Bildungsunion“ der CDU. „Wir müssen Eltern bei der Erziehung wieder in die Pflicht nehmen“, erklärte die frühere Lehrerin und PR-Fachfrau Claudia Ludwig für das konservative Bündnis. Sollten Kinder „schulisch nicht entwickelbar“ sein, müsste es möglich sein, „die Verantwortung an die Eltern zurückzugeben“. Vor einer Woche nun prangerte die Studienrätin Karin Brose mit Unterstützung des Bildungsbehördenssprechers in einigen Medien die Zustände an den Hauptschulen an. Viele Schüler seien „respektlos und verwahrlost“. Eltern, die ihre Erziehungspflicht vernachlässigen, müsste das Kindergeld gestrichen werden. Die GEW spricht von einer „RabenelternKampagne“. Die taz befragte Hamburgs obersten Kinderschützer Wulf Rauer zum Thema.
taz: Vernachlässigen die Eltern von Hamburgs Hauptschülern in großem Stil ihre Erziehungspflicht, wie es seit einigen Tagen in dieser Stadt debattiert wird?
Wulf Rauer: Mit dieser Debatte wird eine Bevölkerungsgruppe diffamiert, die zu den unterprivilegiertesten zählt. Die meisten Schüler, die dort erwähnt werden, stammen aus Elternhäusern, denen regelhaft die ökonomischen und sozialen Ressourcen fehlen, um ihren Kindern bessere Möglichkeiten zum Aufwachsen zu geben. Dort führen Arbeitslosigkeit und ungünstige Wohnbedingungen zu einem verminderten Selbstwertgefühl und einer gering erlebten Selbstwirksamkeit. Diese Konstellation wirkt sich auf die Erziehungskompetenz und das tatsächliche Erziehungsverhalten aus.
Was heißt Vernachlässigung?
Die körperliche und seelische Entwicklung von Kindern wird nicht altersangemessen beachtet. Anzeichen sind schlechte Ernährung, verkommene Zähne, dass das Kind nie zum Arzt geht, nicht wetterangemessen gekleidet ist und soziale Regeln nicht kennt. 90 Prozent dieser Fälle sind mit Armutslagen verknüpft.
Hilft es da, mit Repression und Kindergeldentzug zu drohen?
Nein, den Druck zu erhöhen ist kontraproduktiv. Wir haben viel Erfahrung mit diesen Familien. Die Isolation würde sich durch Druck nur erhöhen, und Hilfsangebote würden als bedrohlich erlebt. Und da die eigenen Kinder der Anlass für diese Strafe sind, wird ihnen die Verantwortung zugeschoben. Damit schließt sich ein Teufelskreis wie eine Schlinge um diese Kinder.
Ist ihre Sichtweise Konsens in der Erziehungswissenschaft?
Bei allen, die sich ernsthaft mit der Gruppe der Schwächsten beschäftigten, mit Sicherheit.
Sind die Probleme an Hauptschulen ein Tabu-Thema?
Nein, wenn Lehrer untereinander sprechen, ist dies sicher kein Tabu. Wenn ein Bildungssystem in ganz starkem Maße darauf setzt, Kinder mit Problemen auszugrenzen, dann wundert man sich am Ende nicht, wenn diese Reste revoltieren. Es schicken nur noch zehn bis 15 Prozent der Eltern ihre Kinder in die Hauptschule.
Handelt es sich um eine Revolte der Hauptschüler?
Ja. Denen ist der Sinnkontext im Bezug auf Schule verloren gegangen. Die Schere zwischen Arm und Reich, die Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft, ist in keinem Land der Welt so groß wie in Deutschland. Wir produzieren mit unserem Bildungssystem den größten Anteil von Schülern, deren Kompetenzen im unteren Bereich liegen.
Warum wird jetzt diese Elterndebatte angezettelt?
Weil gleichzeitig politisch entschieden wird, dass Bildungsprozesse privatisiert werden. Die Verantwortung wird an die Eltern zurückgegeben. Sie sollen für Nachhilfe und Lehrmittel aufkommen. Dann gibt es größere Klassen und die Kürzung bei der Kinder- und Jugendhilfe. Da kommen demnächst noch ganz andere Dinge auf uns zu. Da ergibt die Suche nach Schuldigen einen Sinn. Der Staat verabschiedet sich von seiner Aufgabe und schiebt die Verantwortung einer Minderheit zu, die sowieso ökonomisch benachteiligt ist: den Eltern. Und da von den Eltern nur ein kleiner Teil betroffen ist – über die Gymnasialeltern schimpft ja keiner – kann man sich des politischen Beifalls einer Mehrheit sicher sein.
Was sollte geschehen?
Wir müssen Familien ökonomisch stark machen. Wir brauchen statt Großsiedlungen kindgerechte Wohnumfelder, wo Kinder Entwicklungschancen haben, und wir brauchen sensible Hilfsangebote, etwa den Säuglingskurs im Familienzentrum, um Eltern für Erziehungsfragen zu interessieren. An schwache Familien ist schwer heranzukommen. Keiner mag gern zum Elternabend gehen und sich anhören, was das eigene Kind schon wieder angestellt hat.
Wir müssen trotzdem die Erziehungskompetenz stärken. Aber das geht nicht mit Zwang, sondern nur mit frühen niedrigschwelligen Angeboten.
Interview: Kaija Kutter