das rätsel des nacktbalkons von EUGEN EGNER
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Bei der Rückkehr aus dem Urlaub finde ich folgende merkwürdige Nachricht eines Freundes vor:

„Lieber Freund, als du in Urlaub warst, sah ich einmal vom Auto aus einen nackten Mann auf dem Balkon deiner Eltern. Ich wiederhole: einen nackten Mann auf dem Balkon deiner Eltern. Es war, nach dem flüchtigen Eindruck zu urteilen, ein noch relativ junger Mann. Allerdings war nicht zu erkennen, in welcher Angelegenheit er da war, doch dem Anschein nach gab es keine Differenzen zwischen ihm und deinen Eltern. Sie schienen weder befremdet noch erbost wegen seiner Gegenwart. Ich nahm daher also an, dass es prinzipiell in Ordnung wäre, wenn sich ein junger, nackter Mann auf ihrem Balkon aufhielte. Wie ich erfahren sollte, lag der Fall aber vielmehr so, dass es nur jener eine sein durfte, den ich vom Auto aus gesehen hatte. Diese Lehre zog ich aus dem Misserfolg meiner Versuche, ebenfalls nackt auf dem Balkon deiner Eltern zu stehen. Beim ersten Anlauf kam ich schon entblößt die Treppe herauf, was nicht gut ging und zu sofortiger, brüsker Abweisung führte. Ich bin gleich darauf noch einmal hin, korrekt gekleidet diesmal. Sie haben mich auch reingelassen, nachdem ich gebuhlt und gebalzt hatte wie ein Vertreter. Ob der andere auch so vorgegangen war?

Jedenfalls stand ich, immer noch angezogen, nach einer Viertelstunde wie gewünscht auf dem Balkon. Als ich anfing, mich zu entkleiden, haben deine Eltern geschimpft. ‚Schon wieder!‘ und ‚Was soll denn das?‘ haben sie gesagt. Dabei mussten sie das doch kennen! Auf meine aufgeregten Fragen haben sie nicht geantwortet, sondern mich nur zum Gehen aufgefordert und mit der Polizei gedroht. Ist das eine Gerechtigkeit? Bitte hilf mir, das Rätsel zu lösen, wenn du kannst. Dein Freund.“

Ich schüttle den Kopf. Was für Geschichten! Der gute, alte Freund, der liebenswerte Wirrkopf! Sieht einen nackten Mann auf dem Balkon meiner Eltern und will selbst auf dem Balkon meiner Eltern nackt dastehen. Auf welche Narreteien er doch verfällt, kaum, dass ich einmal in Urlaub fahre. Nun ja, dieser „Fall“ lässt sich leicht lösen. Im Vollgefühl meiner sowohl geistigen als auch seelischen Überlegenheit setze ich mich an meinen Sekretär und formuliere gönnerhaft die Antwort: „Jawohl, lieber Freund, ich kann und will dir helfen. Vernimm hiermit des Rätsels Lösung: Meine Eltern hatten einen Handwerker beauftragt, irgendwelche Arbeiten auf dem Balkon auszuführen. Und da es an dem betreffenden Tag sehr heiß war, hatte der brave Mann in aller Unschuld seinen Oberkörper entblößt. Die Balkonbrüstung verbarg dir, lieber Freund, den Umstand, dass er eine Hose und sogar Schuhe trug. Ja ja, der Mensch nimmt nur das wahr, was er wahrnehmen will (siehe die einschlägigen Wissenschaften).

Da hat dir deine Imagination aber einen schönen Streich – doch: Moment mal, lieber Freund! Was ist jetzt das? Spinn ich denn? Spinnen wir alle beide? Meine Eltern wohnen doch im Parterre, die haben überhaupt keinen Balkon! Hilfe! Beruhigungstee! Polizei!“