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: Bekenntnis zur Scham

Die Getretenen schreien nach Rache. Auf den soeben geschändeten Gräbern eines britischen Soldatenfriedhofs in Gaza hatten die Täter Fotos misshandelter Iraker aus dem Gefängnis von Abu Ghraib befestigt. Nicht nur eine barbarische, sondern auch eine politisch sinnentleerte Aktion, denn die dort liegenden Soldaten hatten im Ersten Weltkrieg gegen die Truppen des Osmanischen Reiches und auf der Seite der arabischen Freiheitsbewegungen gekämpft.

KOMMENTAR VON CHRISTIAN SEMLER

Aber nach solchen Überlegungen war den Grabschändern nicht zumute. Hier triumphierte die Logik einer Abgrenzung, in der sich Geschichte und Gegenwart zu einem einzigen Kampf der arabischen Welt gegen die Demütigungen durch „den Westen“ zusammenballen. Aktion und Reaktion folgen einem Schema aufgeladener Emotionen, das sich jeder Diskussion, jeder politischen Lösung zu entziehen droht.

Und die Europäer? Sie haben sich in großer Mehrzahl gegen den Einmarsch in den Irak ausgesprochen. Aber können sie angesichts der Verletzung des humanitären Völkerrechts von Guantánamo bis Abu Ghraib jetzt einen klaren moralischen Trennungsstrich zu den USA ziehen? Können sie sagen: Gut, ihr habt geholfen, uns vom Faschismus zu befreien, aber jetzt ist das Kapital der Dankbarkeit aufgezehrt? Wohl kaum. Am wenigsten Deutschland, aber auch andere europäische Nationen nicht, die sich bis in die jüngste Zeit in den Kriegen gegen die antikolonialen Befreiungsbewegungen keinen Deut um eine humane Kriegführung geschert haben. Die Kluft zwischen demokratischer Rhetorik und faktischer, verachtungsvoller Unterdrückung ist eine Erfindung des alten Europa. Statt moralischer Überhebung wäre ein Bekenntnis zur Scham angebracht, zu einem Gefühl, das im Übrigen viele Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks angesichts der Fotos von Abu Ghraib teilen.

Gewiss, es ist Aufgabe der Europäischen Union, für einen politischen Prozess im Irak zu streiten, der unter dem Dach der UNO den Irakern die Entscheidungsfreiheit über die Zukunft ihres Landes gibt. Aber diese Politik muss von Achtung gegenüber den irakischen Akteuren und von Anerkennung gegenüber den Leistungen der arabischen Kultur gekennzeichnet sein. Der Vorfall in Gaza zeigt, wie tief der Abgrund ist. Überwindet der Westen ihn nicht, könnte sich die Grabschändung als Menetekel erweisen.

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