das kuddeltrauma von JOACHIM SCHULZ
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Jahrelang hatten wir Anton gedrängt, sich an einen erfahrenen Psychodetektiv zu wenden. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass es in seiner Lebensgeschichte einen unaufgeklärten Knacks gab, denn anders war sein bizarres Verhalten nicht zu erklären. Wir fürchteten, dass eine Bombe in ihm tickte: Irgendwo in seinem Unterbewusstsein musste ein bösartiger Kobold hausen, der nur darauf wartete, ihm eines Tages das Anzünden seiner Wohnung oder die bewaffnete Erstürmung eines Heizkraftwerks zu befehlen.

Denn Anton fror. Notorisch. Besuchte man ihn zu Hause, kriegte man jedes Mal fast einen Atemstillstand, da die Heizkörper summten wie Dampfkochtöpfe kurz vor der Explosion und die Temperatur der Räume den Eindruck erweckte, als ob man sich in Luzifers überirdischem Generalkonsulat aufhielte. Anton jedoch trug trotz der Hitze mehrere Pullover und einen Schal. Niemals verließ er sein Heim, ohne sich Thermoschuhe und lange Unterhosen angezogen zu haben. Zudem hatte er stets einen Föhn dabei, mit dem er sich heiße Luft ins Gesicht blies, wenn wir in einer Trinkstube zusammenhockten. Regelrecht unheimlich aber wurde er mir, als wir einmal durch den Stadtpark spazierten und er jählings heftig zu keuchen begann. „Kuddel!“, schnaufte er: „Kuddel! Du Monstrum! Rache! Rache …“

Schon damals im Park schwante mir, dass ein paar Kaninchen für diesen Anfall verantwortlich sein mussten. Denn während Anton Gift und Galle spuckte, blickte er starr auf eine Gruppe von Langohren, die auf einer Wiese saßen und Löwenzahnblätter knabberten.

Wie richtig ich mit dieser Vermutung lag, erfuhren wir neulich, als unsere alte Kumpanin Mathilda den engsten Freundeskreis aus Anlass ihres Wiegenfestes bekochte. „Voilà, Lapereau à la moutarde violette!“, sagte sie und stellte eine Porzellanterrine auf den Tisch. Kaum aber hob sie den Deckel von der Terrine, kaum war der Blick auf die Kaninchenschlegel in Senfsauce frei, wurde Anton aschfahl. „Aargh!“, geiferte er, „Kuddel! Kuddel!“

Anton langte in die Terrine und grabschte sich eine Keule, ließ sich zu Boden fallen und wälzte sich mit dem Kaninchenbein herum, als ob er mit ihm einen Ringkampf austrüge. Er würgte den Schenkel, bohrte seine Zähne in ihn hinein, und es brauchte ein halbes Dutzend geharnischter Ohrfeigen, um ihn zur Besinnung zu bringen.

Zumindest aber hatte der Kampf mit dem Senfsaucenschlegel ihm einen klärenden Schock versetzt, denn endlich erinnerte er sich an das Kindheitserlebnis, das seiner Verfrorenheit zugrunde lag: „Es war Winter“, flüsterte er. „Es war Nacht. Ich suchte nach Kuddel, meinem Kaninchen. Ich ging im Schlafanzug in den Garten. Die Tür schlug zu. Die Klingel war abgestellt. Als man mich morgens fast steif gefroren gefunden und ins Haus gebracht hatte, grinste Kuddel. Er grinste, versteht ihr!?“

Genützt freilich hat dieser Gedächtnisdurchbruch nichts. Noch während er uns von Kuddels verbrecherischem Benehmen erzählte, warf er den Föhn an, und deshalb wird Mathildas umwerfend leckeres Lapereau wohl leider nicht als analytischer Husarenstreich in die Geschichte der Psychologie eingehen.