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Archiv-Artikel

„Staatlich verordneter Schwachsinn“

Im Vorfeld des Deutschen Ärztetages in Bremen kritisieren Jörg-Dietrich Hoppe und Ursula Auerswald von der Bundesärztekammer vehement die Auswüchse der Gesundheitsreform: „Wir ersaufen in sinnlosen Formularen.“

Von Marco Carini

Der 107. Deutsche Ärztetag wirft seine Schatten voraus. Wenn sich in der kommenden Woche im Bremer Konzerthaus Glocke rund 1.500 MedizinerInnen aus der ganzen Republik treffen, werden die Konsequenzen der Gesundheitsreform im Mittelpunkt stehen. Eine Reform „ohne Gewinner“, so Bundesärztepräsident Jörg-Dietrich Hoppe, die vor allem dazu beitrage „Rationalisierungen von Gesundheitsleistungen zu verschärfen und Qualität abzubauen“.

Der Ärztetag müsse „diese Zusammenhänge, die weit über das Problem der Praxisgebühr hinausgehen, offenlegen“, gibt Hoppe die Richtung vor. Gestern stimmten er und seine Vertreterin, die Bremer Anästhesistin Ursula Auerswald, in einem Pressegespräch in Hamburg die Medien schon mal auf die konfliktreichsten Themen ein. Mindestens 200, vielleicht aber auch bis 1.500 Krankenhäuser werden bundesweit „vom Markt gehen“, prognostiziert Auerswald die Folgen des verschärften Gesundheitswettbewerbs.

Auch viele Einzelpraxen würden den Konkurrenzkampf „nicht überleben“, sie müssten sich zu Behandlungszentren zusammenschließen. Als zwangsläufige Folge dieser „Konzentrationsprozesse“ sieht Auerswald: „Den Facharzt um die Ecke und eine flächendeckende Gesundheitsversorgung wird es dann nicht mehr geben, gerade Patienten aus ländlichen Räumen werden dann weite Wege zurücklegen müssen, um eine gute Versorgung zu erhalten.“

Zudem ziehe der sich verschärfende Wettbewerb „immer mehr Profitdenken“ der Mediziner nach sich, weiß Jörg-Dietrich Hoppe. Im Klartext: Eine Praxis und eine Klinik, die überleben wollen, müssen zu allererst darauf schauen, wie sie aus jedem Patienten möglichst viel Geld herausquetschen – zweitrangig dabei, ob‘s dem Heilerfolg dient.

Auch das Konzept der Hausarztversorgung ist für die Kammer „unausgegoren“. Der Hausarzt als „Case-Manager“, der die Behandlungswege durch Überweisungen koordiniert, werde zwangsläufig in Interessenskonflikte kommen. Auerswald: „Wer verteilt, darf eigentlich selbst nicht mitspielen – doch die Hausärzte verdienen ja daran, ihre Patienten zu halten.“

Überweisungen wären für sie nur dann lukrativ, wenn der Kollege Facharzt anschließend teure Medikamente verschreiben müsste, die die Budgets pro Patienten sprengen – Überweisungskriterien, die wenig mit den Interessen der Erkrankten zu tun hätten. Auerswald: „Die Politik hat es geschafft, einen Keil in die Ärtzteschaft zu treiben.“

„Heller Wahnsinn“ ist für Ursula Auerswald die überbordende Bürokratie, der sich Krankenhäuser und Arztpraxen zunehmend ausgesetzt sehen: „Wir ersaufen in sinnlosen Formularen.“ 40 Prozent der ärztlichen Tätigkeit und rund zwei Drittel der in einer Praxis geleisteten Arbeitszeit gingen inzwischen beim Ausfüllen von Formularen drauf – und damit von der Behandlungszeit ab. „Wir brauchen für diesen staatlich verordneten Schwachsinn zunehmend Doktoren der Administratur und nicht der Medizin“, schimpft die Kammervizepräsidentin.

Ärzte müssten penibel jede Tätigkeit dokumentieren, ohne dass diese Aktenberge jemals ausgewertet würden. „20 Prozent der Bürokratie könnten ohne Probleme von heute auf morgen verschwinden, ohne dass es jemand merkt“, schätzt Auerswald. Das Problem: „Alle Beteiligten beklagen diesen Zustand, aber niemand fühlt sich verantwortlich, das wirklich zu ändern“. Auch hier müsse der Ärztetag in Bremen „ein deutliches Signal setzen“.