piwik no script img

Archiv-Artikel

Der Streichkandidat

Er ist das Gegenteil des Kanzlers – interessiert am Bau eines stabilen Gebäudes, während Schröder ein Wohnmobil reicht

AUS BERLIN HANNES KOCH

Verdammte, lästige Kuppel. Ist das Schloss nun schöner mit dem Fachwerkaufbau, der im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, oder ohne? Ein ideologischer Streit entbrennt – fast ein Kulturkampf zwischen Monarchisten und Bürgerlichen. Mit der Macht des Finanziers entscheidet der Ministerpräsident von Hessen, Hans Eichel: Die Kuppel kommt nicht drauf.

Der Denkmalschutz zetert. Für den Architektensohn Eichel aber ist es eine Entscheidung für Demokratie – und für Sparsamkeit. Der Aufbau hätte nicht nur wie eine Krone auf dem renovierten Schloss Wilhelmshöhe in Kassel gesessen, sondern auch paar Millionen Mark mehr gekostet.

Was 1995 richtig war, erscheint mittlerweile falsch. Seine ausgeprägte Neigung, das Geld beisammenzuhalten, hat den heutigen Bundesfinanzminister Hans Eichel an den Rand des politischen Abgrunds geführt. Absturz nicht ausgeschlossen. Wenn heute die Steuerschätzer ihre aktuellen Horrorzahlen verkünden, rückt das Ende seiner Karriere wieder etwas näher.

Vor neun Jahren war davon noch keine Rede: Eichel hatte den heutigen Generaldirektor des Deutschen Historischen Museums in Berlin, Hans Ottomeyer, zum Chef der Staatlichen Museen in Kassel berufen. Eine Dreiviertelstunde reichte den beiden, um die Schlosssanierung abzustecken. Ottomeyers Eindruck: „Er denkt in architektonischen Systemen – in Räumen, Perspektiven und Strukturen.“

Große Würfe, lange Linien, weit entfernte Fluchtpunkte, auf die alles zustrebt – das prägt Eichels Denken. Eine Sichtweise, die ihm politischen Erfolg beschert. Ob als Oberbürgermeister von Kassel, der 1981 mit dem ersten rot-grünen Bündnis in einer westdeutschen Großstadt der SPD eine neue Machtperspektive eröffnet. Ob als Ministerpräsident in spe, der 1990 ein Schattenkabinett benennt, in dem tatsächlich so viele Frauen wie Männer sitzen. Oder als Bundesfinanzminister, der das erreichen will, was jahrzehntelang unmöglich schien: dass der Staat ohne neue Schulden auskommt.

Kurz nach seiner Berufung ins Bundeskabinett 1999 setzt Eichel sich und dem gesamten Land dafür einen Termin: 2006. Daran hält er fest, solange wie möglich. Auch dann noch, als niemand mehr ernsthaft daran glaubte.

Im Mai 2003 gab Eichel das Ziel selbst auf. Vor zwei Tagen hat SPD-Parteichef Franz Müntefering überdies den Sparvertrag von Maastricht offiziell zu Grabe getragen. Und gestern vernahm man auch aus Eichels Mund die Frage, ob man angesichts der schwachen Konjunktur noch weiter sparen könne. Eichels Haushaltssanierung ist vorerst gescheitert. Und so wie seiner Politik der Fluchtpunkt abhanden kommt, verschwindet die gesamte Perspektive – politisch und beruflich.

Reduktion der Mittel, Betonung weniger Grundelemente, Klarheit der Form – in diesem strengen „Bauhaus“-Geist erzieht Vater Rudolf Eichel, Architekt in Kassel, seinen am Weihnachtstag des Jahres 1941 geborenen Sohn. In diesem Sinne konstruiert Sohn Hans später auch das Gebäude seiner Finanzpolitik. Runter mit dem Staatsdefizit, Jahr für Jahr, bis auf die Kommastelle definiert. Runter mit den Steuern, runter mit der Arbeitslosigkeit. Und hoch mit dem Wachstum. Alles schnörkellos, in klarer, schöner Linie.

Als Bundeskanzler Gerhard Schröder den abgewählten hessischen Ministerpräsidenten Eichel 1999 ins Bundeskabinett holte, war „die Sparpolitik richtig“, sagt Dieter Vesper vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Auf den Grafiken der Statistiker schossen Balken in die Höhe: Die New Economy boomte, selbst die alte Wirtschaft wuchs und die Steuereinnahmen stiegen kräftig mit. Auf dieser Basis plante das Finanzministerium die Zukunft – die sich leider anders entwickelte.

Geblieben sind die bunten Sparschweine. Zahlreich suhlen sie sich auf Eichels Schreibtisch im ehemaligen Reichsluftfahrtministerium. Man kennt sie, sie sind zum dankbaren Symbol geworden. Die Plakate der Kasseler Documenta an der Wand bleiben da meist unerwähnt. Doch die Poster der Events, die die osthessische Provinzstadt alle fünf Jahre zur Metropole der experimentellen Kunst machen, sind für Eichel Ikonen der Identifikation. Als Oberbürgermeister saß er jahrelang im Aufsichtsrat – einer Veranstaltung, die so gar nicht zu dem staubtrockenen Image passen will, das Eichels PR-Berater Klaus-Peter Schmidt-Deguelle kultivierte. Er stilisierte den Minister zum Chefsparer Deutschlands, zum unsäglichen „Sparhans“. Dabei sei er doch einer, wie Museumsdirektor Ottomeyer findet, der „an die Grenze gehen will, um die Prinzipien der Moderne zu erkunden“.

Eichels Finanzpolitik selbst enthält eine Spur Abenteuer und Irrsinn. Die Grafiken in den Monatsberichten des Finanzministeriums, in denen die Einnahmen ab 2006 die Ausgaben überschreiten sollen, muten so fantastisch an, dass der Protagonist dabei eigentlich nur Schiffbruch erleiden kann – wenn er nicht verdammt viel Glück hat.

Am Anfang hatte Eichel Glück. Er war der Star im Kabinett. Mit einem gigantischen Sparpaket von 30 Milliarden Euro brachte er die Staatsfinanzen wieder einigermaßen ins Lot. Gegen den Widerstand der Unionsspitze paukte er die große Steuerreform durch den Bundesrat, an der Exkanzler Helmut Kohl und sein CSU-Finanzminister Theo Waigel gescheitert waren. Ab 2001 jedoch wurde es schwieriger. Die New-Economy-Blase war geplatzt, es hätte ein Zeichen sein können. Doch Eichel wollte weiter sparen und sein Haus nicht mit Schnörkeln verunzieren.

„Chaos ist ihm zutiefst zuwider“, sagt Klaus Becker, der das Kasseler Anzeigenblatt Extra Tip leitet und Eichel schon ewig kennt. Mitte der 70er, im ersten SPD-Magistrat der Stadt, war Becker Eichels Pressesprecher. Heute organisiert er regelmäßig die Treffen der „Kassel-Mafia“ in Berlin – einer Runde exilierter Osthessen, die Karriere gemacht haben. Neben Hans Eichel erscheinen auch regelmäßig Bundesjustizministerin Brigitte Zypries und Klaus Siebenhaar, der Marketingchef des Jüdischen Museums in Berlin.

Siebenhaar war Schüler des Kasseler Wilhelm-Gymnasiums, als Eichel nach dem Germanistik- und Politikstudium Ende der 60er-Jahre das Referendariat an seiner alten Schule absolvierte. Lehrer Eichel hatte „nichts von einem 68er“, erinnert sich Siebenhaar, „er war immer so ’n korrekter Typ.“ Trug Jackett, wirkte nie richtig jung, eher alterslos, die personifizierte Beständigkeit – keiner, der mal eben über den Haufen wirft, was er einmal für richtig befunden hat.

Noch heute, 34 Jahre später, gelingt es Eichel mühelos, die Lehrerkollegen in wenigen Sätzen zu charakterisieren. Durch und durch bodenständig, lebt er in einer Wohnung im Haus seiner Eltern. Oft sieht man ihn Freitag abends im ICE von Berlin nach Kassel fahren und am Samstagvormittag durch die Fußgängerzone bummeln. In Kassel lebe man nicht barock, südländisch und verschwenderisch, sagt Klaus Siebenhaar, sondern eher „sparsam bis kleinlich“.

Das prägt. Vielleicht hat Eichel deshalb so lange an seinem Credo des Sparens festgehalten, obwohl es längst in offenkundigen Widerspruch zur Wirklichkeit geraten war. Ökonom Dieter Vesper meint: „Er wird vorgeführt für Dinge, für die er eigentlich nichts kann.“ Selbst wenn das stimmt, muss sich Eichel Fragen gefallen lassen. Sollte es die Aufgabe eines Finanzministers sein, eine Ideologie gegen die widerborstige Realität zu verteidigen? Oder sollte er ihr gestaltend vorangehen?

Zum Teil trägt Hans Eichel selbst die Verantwortung für den Absturz der Staatsfinanzen. In den ersten Jahren gab er den neoliberalen Tabubrecher. Während sich ein Manager wie Henning Schulte-Noelle von der Allianz schon über eine niedrigere Steuer für den Verkauf von Aktienpaketen gefreut hätte, schaffte Eichel sie gleich ganz ab. 2002 tendierten die Staatseinnahmen aus Unternehmensgewinnen gegen null. Die radikale Senkung des Spitzensteuersatzes tat ein Übriges.

Das Geheimnis des Eichel’schen Erfolgs bestand zunächst darin, der wackeligen Regierung einen Halt zu geben, ein Fundament. Er ist das genaue Gegenteil des Kanzlers – interessiert am Bau eines stabilen Gebäudes, während Schröder ein Wohnmobil reicht. Eichel befreite die SPD vom Ruch der Verschwendungspartei und füllte das von Schröder geschaffene konzeptionelle Vakuum mit dem Dogma vom Sparen. Die Bevölkerung war ihm zugetan, weil er den harten Kerl gab, der den Euro so stabil machen wollte, wie es die D-Mark war. Als ideellen rot-grün-schwarzen Gesamtfinanzminister konnte ihn selbst die Union zunächst nur schwer angreifen. Exekutierte er doch das, was Theo Waigel mit dem Stabilitätspakt von Maastricht begründet hatte.

Doch die Wachstumstherapie will nicht anschlagen. Die öffentliche Meinung hat sich gedreht. Und jetzt ist der Finanzminister zur Manövriermasse im Kabinett geworden. Unwahrscheinlich, dass Hans Eichel das Ende der Legislaturperiode noch als Chef seines Hauses erlebt. Er verkörpert eine vergangene Ära, spätestens zum Aufbruch in den nächsten Bundestagswahlkampf braucht die Regierung ein neues Gesicht. Die wichtigen Fragen: Wer wird Nachfolger, wann ist der richtige Zeitpunkt?

Und was macht Hans Eichel dann? EU-Kommissar für Wirtschaft? Architekt? Hin und wieder plane er nebst Finanzgebäuden auch ganz andere Häuser, erzählt man sich. Vielleicht ist Hans Eichel zu sehr Architekt, als dass er ein auf Dauer erfolgreicher Politiker sein könnte, der sich flexibel durch den Irrgarten der Ansprüche und Anfeindungen windet.

Als die Kassel-Mafia sich unlängst in einer Bar in der Berliner Ackerstraße traf, saß der Finanzminister verträumt mit seiner Lebensgefährtin Händchen haltend auf einer Bank. Die Bodyguards schauten diskret in die andere Richtung. „Die wahrscheinlich schönste Option für danach“, sagt einer, der ihn ganz gut kennt.