: Plötzlich die kopflose Kuh
Der isländische Fotograf Ragnar Axelsson, präsentiert derzeit im Altonaer Museum, dokumentiert soziologische Entwicklungen Grönlands und der Färöer-Inseln und entwickelt dabei eine dezent surreale Perspektive
Was ist eigentlich wichtig an einer Geschichte: dass sie gut ist oder dass sie stimmt? Und worin liegt die wahre Bedeutung der Fotos des Isländers Ragnar Axelsson, der jahrelang auf den Färöer-Inseln fotografierte? Ist es nicht völlig egal, ob man die „echten“ Geschichten hinter den Bildern hört oder selbst welche erfindet? Oder ist es eher das wache Interesse am Motiv, das die derzeit im Altonaer Museum präsentierten Fotos authentisch macht, von denen einige wie Reiseprospektbilder wirken, andere aber ganz und gar nicht?
„Ich gebe zu, dass es mir um die alten Kulturtechniken leid tut“, sagt der Zeitungsfotograf, der seit 1980 soziologische Entwicklungen in Island, Grönland und auf den Färöer-Inseln dokumentiert. Vielleicht ist ein Hauch Sentimentalität dabei, aber dass Landschaft Prägung, vielleicht auch Fessel bedeutet, weiß er definitiv: „Nachdem ich bei 40 Grad unter Null in der Eiswüste übernachtet hatte, war ich sicher, dass ich nie wiederkommen würde. Aber kaum war ich zurück in Island, fraß mich die Sehnsucht nach Grönlands Gletschern auf.“
Ob aber Sehnsucht tragfähige Basis für Dokumentarfotografie ist? Allenfalls als Ausgangspunkt, und dies – das Abdecken emotionaler Schichten – ist es, was die kleine Ausstellung subtil erfahrbar macht: Peu à peu hat Axelsson im Laufe seiner optischen Studien, die mit Kajaks und Eisbergen beginnen, den subjektiv begeisterten Blick hinter sich gelassen: An die stille dänische Interieurmalerei der Jahrhundertwende erinnert etwa das Foto eines alten Bauern, der sich erst am Küchentisch, später auf dem Speicher ablichten lässt. Würdevoll hat der Fotograf ihn ins Bild gebannt und nebenbei den Blick auf das gelenkt, was der Kontinentaleuropäer als „romantisch morbid“ empfinden könnte: Ein in verlassenster Ödnis vor sich hinlebender Mensch ist dies, der zaghaft in unsere Welt hineinlugt, als sei er überrascht, uns vorzufinden.
Als wolle er sagen „Endlich seid ihr da“ öffnet anderswo ein Alter die Haustür – auf einem Foto, dessen surrealer Gehalt im Wesentlichen auf dem schneeibedingten Weißraum beruht. Und leise keimt in einem der Verdacht, dass auf diesem Bild die Zeit andersherum läuft, und dass Begriffe wie „Dynamik“ und „Stagnation“ selbstgerechte Axiome der technisierten Welt sind.
Schicht für Schicht dringt der Fotograf in die Bizarrerien dieser Landschaft vor: Da ist zum Beispiel der Bauer, der wie Barlachs Singender Mann auf einer Heuwiese liegt, als Meteorit ins Gras geworfen. Und schließlich, als habe die Suche nach dem Unbegriffenen ihr Ziel gefunden: ein im Goldenen Schnitt komponiertes, verregnetes Färöer-Foto mit Wiese, Mäuerchen und Holzhütte.
Und dann steht da plötzlich diese kopflose Kuh im Bild, deren Haupt hinter die Mauer ragt, als habe der Fotograf dem Betrachter auch dieses einzig lebendige Motiv noch vorenthalten wollen. Eindringliche Metapher einer Ödnis, die nur denjenigen nicht ausspeit, der bereit ist, ihre surreale Facetten zu genießen. Petra Schellen
Di–So 11–18 Uhr, Altonaer Museum; bis 1.8.