Vom Pfad ab ins Gebüsch

Wir alle sind Reisende und verlieren uns, auch auf dem Theatertreffen: In Sebastian Nüblings Inszenierung von „Wilde – der Mann mit den traurigen Augen“, macht das nicht mal unglücklich

Surrealer Existenzialismus in einer Slapstick-Aufführung

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Einmal war das Stück in Theater heute abgedruckt: „Wilde – Der Mann mit den traurigen Augen“ von Händl Klaus. Was für ein Abgrund an Trostlosigkeit. Man mochte sie nicht, diese Figuren, zurückgeblieben in einer Endzeit. Eigentlich waren sie bemitleidenswert, gestrandet auf einem Bahnhof, wo nur noch ein Zug am Tag verkehrt, in einer Stadt ohne Wasser, ohne Strom. Doch man vermutete Gemeinheit hinter jedem ihrer Sätze, Falschheit in jedem freundlichen Ton; so ein Stück surrealer Existenzialismus, über den Wolf in jedem von uns, unter der dünnen Decke der Zivilisation.

Dann kommt „Wilde – Der Mann mit den traurigen Augen“ auf die Bühne, eingeladen zum Theatertreffen, und in der Inszenierung von Sebastian Nübling ist zunächst alles ganz anders. Die Worte wiegen gar nicht so viel, viel wichtiger sind die Schritte, mit denen die Figuren ihnen dauernd davonrennen: stets um zwei Reihen aus Schließfächern, manchmal auch mitten durch sie hindurch, denn die Fächer erweisen sich als verborgenes System von Gängen. Eine Slapstick-Aufführung, die einmal sogar rückwärts läuft, mit überhöhter Geschwindigkeit, wie ein Trickfilm.

Die eine Figur, Gunter aus Bleibach, von Bruno Cathomas gespielt, schwitzt dabei ganz fürchterlich und leidet an seinem Fleisch und Ungeschick; er behauptet, ein Arzt zu sein, der aus einem Typhus-Gebiet in Moldawien kommt und den Weg nach Hause nicht mehr findet. Er wirkt wie der Geist eines heimwehkranken Kindes, eingeschlossen im viel zu großen Körper eines in die Welt hinausgeschickten Mannes, und das macht ihn zur leichten Beute für die anderen, die Brüder Flick (Tim Porath und Peter Knaack). Sie kommen in rosa Kinderkleidern und bewegen sich synchron wie zwei mechanische Figuren. Und wenn sie auch aussehen wie aus dem Kinderbuch ausgeschnitten, bleibt doch nie ein Zweifel an der Eiseskälte ihrer Kalkulationen.

So beginnt ein böser Witz des Textes zu funkeln. Der Gang der Handlung steuert oft auf eine Situation der Not zu, jemand bedarf der Rettung, Menschlichkeit ist gefragt, Anständigkeit und Hilfsbereitschaft. Doch damit wird Druck ausgeübt, ohne Ende, und Gunter aus Bleibach auf einen Weg gepresst, den er nicht gehen will. Am Schluss muss er den Platz der Brüder einnehmen, ihre Familienfotos zu seinen machen – und sie verschwinden. Damit rettet sich das Stück ins Mystische hinüber, denn dass einer den anderen erlöst aus einer scheinbaren Unendlichkeit, ist ein alter Topos. Referenzpunkte in der Gegenwart kann man damit allerdings nicht mehr verbinden, auch nicht in dieser leichtfüßigen Inszenierung.

„Wilde – Der Mann mit den traurigen Augen“ ist eine Koproduktion des Steirischen Herbsts und des Schauspiels Hannover, beide aufgeschlossen gegenüber des Experimentes verdächtigten Autoren. Händl Klaus, der mit der Umstellung von Vor- und Nachnamen seine Tiroler Herkunft betont, ist 1969 geboren und pendelt zwischen Wien, Berlin und Biel in der Schweiz. Diese Information gehört zum Bild eines Autors, der seine Stücke vor allem in Nachtzügen geschrieben haben will: Inspirationsort für das Dunkle und Verlorene.

Der Reisende, der nirgendwo mehr ankommen und nicht mal mehr die Tür zum Klo finden kann, so dass er sich aus Not in die Hosen macht – Bruno Cathomas spielt nicht nur hier eine solche Rolle, sondern ganz ähnlich in einem Stück an der Schaubühne, in Falk Richters „Electronic City“.

Bei Händl Klaus ist er der Arzt auf einem verlassenen Bahnhof, bei Falk Richter der Manager, der die Flughäfen, Hotels und Congress-Centren nicht mehr unterscheiden kann: Das scheint eine merkwürdige Fortsetzung der Stücke über ihr Ende hinaus, dass ein Schauspieler mitsamt seiner Rolle von der bröselnden Identität damit von einem in das andere Stück schlüpfen kann.

Mit diesem Gastspiel ist das Theatertreffen in den Sophiensälen angekommen. Das bedeutet mehr als nur einen trendigen Aufführungsort. Zwischen die Inszenierungen der großen Bühnen sind mehr als bisher kleine und brüchige Formate eingestreut. Immerhin drei der zehn eingeladenen Stücke, „We are camera“ von Armin Petras, „deadline“ von Rimini-Protokoll und eben „Wilde“, verlangten den intimeren Rahmen.

Ihre Einladung signalisierte auch den guten Willen der Jury des Theatertreffens, nicht nur den Trampelpfaden der alten Theatertiere zu folgen, sondern auch im Gebüsch zu stöbern.

„Wilde – Der Mann mit den traurigen Augen“, in den Sophiensälen, Sophienstraße 18, Mitte. Am 15. Mai um16 und 21 Uhr, am 16. Mai um 21 Uhr