Höre mit Schmerzen!

Lärm ist sexy, Fehler sind schön: Warum das Störgeräusch zum Ornament und Krankheit zur Metapher der neuen elektronischen Musik geworden ist

von KLAUS WALTER

One man’s poetry is another man’s cliché, sagt ein englisches Sprichwort. Ähnlich verhält es sich mit der Musik: Was dem einen behagt, verursacht dem anderen Schmerzen. Der Tinnitus entwickelt sich zur Volkskrankheit. Ich kenne einen Musikredakteur beim Radio, den ereilte der Hörsturz bei einem Metallica-Konzert. Jetzt ist er Internet-Beauftragter. Mehr Klischee als Poesie, aber wahr.

Das gilt auch für die Meldung, nach der US-Militär in Bagdad Songs von Metallica einsetzte, um irakische Gefangene zum Sprechen zu bringen. Stundenlang wurden die Inhaftierten auf hoher Lautstärke mit der Musik der Rockband beschallt, bis ihre Widerstandskraft gebrochen ist. „Glauben Sie mir, es funktioniert, diese Leute haben noch nie Heavy Metal gehört, sie halten das nicht aus“, erklärte einer der „Befrager“ dem Newsweek-Magazin. „Wenn du einem das 24 Stunden lang vorspielst, dann beginnen Körper und Gehirn zu versagen, deine Gedanken werden langsamer, und dein Wille ist gebrochen. Dann kommen wir rein und reden mit ihnen.“

Sicher, das ist Folter. Dennoch hat die Vorstellung, dass man mit der harmlosen Musik von Metallica Willen brechen und Gedanken verlangsamen kann, für unser Ohr etwas Lächerliches. Lächerlich wie die Geschichte von Panamas Diktator Noriega, der nach tagelanger Beschallung mit AC/DC aus US-Helikoptern kapituliert haben soll. Lächerlich wie der angeblich gelungene Versuch, Junkies und Obdachlose mit klassischer Musik aus deutschen Bahnhöfen zu vertreiben.

Vertreibung, Folter und Erkrankung durch Musik? Das soll noch funktionieren, wo wir doch jede erdenkliche Terrormusik schon gehört haben? Gabba-Techno? Zwölfton? Grindcore? Oder den Grand Prix?

Der Virus im Ohr

„Erkrankung durch Musique Records“ ist der Name eines Münchner Plattenlabels, in Berlin residieren „Digital Kranky“ und „Klangkrieg“. Und die aktuell reizvollste Schnittmenge von Dancehall & Noise kommt von einem Act namens The Bug – zu Deutsch: Wanze, Käfer, Ungeziefer. Digitaldeutsch: Virus.

Bei Klangkrieg erschien kürzlich ein Album von Echokrank. Dreißig Jahre nach Susan Sontags Klassiker erhält „Krankheit als Metapher“ offenbar neue Geltung in der elektronischen Musik. Und sechsunddreißig Jahre nach Jimi Hendrix: Der traktierte seine elektrische Gitarre gegen die Gebrauchsanweisung, und plötzlich galt Lärm als sexy. Im Phrasenkatalog der Rockkritik etablierte sich die „Feedback-Orgie“. Die sexuelle Metapher signalisiert die Lust am gezielten Kontrollverlust. Der Gitarrenkörper folgt seiner eigenen Libido, sein Besitzer verliert die Macht über ihn – und genießt das.

„Feedbackorgien“, „Lärmkaskaden“ und „Geräuschattacken“ – so schnell, wie diese Begriffe Eingang fanden in die Sprache der Rockkritik, so schnell wurden die so bezeichneten musikalischen Grenzüberschreitungen zu stereotypen Überschreitungsgesten reformatiert.

Zu Beginn der 70er-Jahre gehörten Feedback und ähnliche Störgeräusche zum guten Ton der Rockmusik: Ornamente einer zur Konvention geronnenen musikalischen Form. Hendrix hatte sich rechtzeitig verabschiedet. Der kurzen Phase der künstlerischen wie gesellschaftspolitischen Deterritorialisierung nach 1965 folgte eine kulturindustriell forcierte Reterritorialisierung: Neue Märkte entstanden, Pop wurde zur akustischen Tapete des Alltags, das Eben-noch-Störgeräusch zum Markenzeichen westlicher Jugendkulturen.

Vergleichbare Zyklen von De- und Reterritorialisierung erlebte die Popmusik nach der Punkrevolte und zuletzt im Techno, der „Revolution 909“ (Daft Punk). In beiden Fällen konnte man den Wertewandel genretypischer Sounds beobachten: vom Störgeräusch zum Zierrat.

Vor allem in der digitalen Musik vollzieht sich diese Metamorphose in immer rasanteren Schüben. Womit wir wieder bei Echokrank wären. Im Begleitschreiben zur Platte proklamiert Alain Pacadis: „Während sich eine elektronische Musik durchgesetzt hat, in die sich jedes Umweltgeräusch problemlos integrieren lässt, so ist bei Echokrank jeder zusätzliche Ton störend. Musik ist nur ein anderes Wort für den Krach in dieser Welt. Go see the doctor.“

Kurioserweise greift Echokranks Kritik am integrierten Soundalltag auf das Zeichenrepertoire der 68er-Revolte zurück. Der Bandname – „Echokrank bezeichnet eine akustische Halluzination, unter der Tiefseetaucher leiden, wenn sie zu schnell auftauchen“ – erinnert an die „Krankheit zur Waffe machen“-Slogans der Antipsychiatrie-Bewegung der Nach-68er-Jahre, in der BRD maßgeblich propagiert vom Sozialistischen Patientenkollektiv (SPK) in Heidelberg.

Dem SPK wie den Antifolterkomitees kommt das historische Verdienst zu, erste Aufklärungshilfe geleistet zu haben über Herrschaftstechniken wie „weiße Folter“ und „sensorische Deprivation“ – so die klinische Vokabel für die AC/DC- & Metallica-Methode.

Folgerichtig wie fatal führte der Kampf gegen weiße und andere Folter einige SPK-Aktivisten zur Stadtguerilla – vulgo: RAF & Gefängnis/Tod. Spätfolgerichtig nannte sich eine Industrial-Band aus England in den 80er-Jahren SPK. Auch die wussten um den dekorativen Appeal kranker Sounds. Wie überhaupt die Krankheitsmetapher in keinem Genre derart ausgebeutet wurde wie im Industrial, der einzigen Musik der Welt, für die Belgien Deutungshoheit beanspruchen darf. Von dort kam auch eine der bescheuertsten Bands ever: The Klinik.

Zurück zu Echokrank. Ihr Manifest gipfelt in einer Paraphrase auf die berühmteste Parole von Berlins berühmtester Band: „Mach Nervös Was Dich Nervös Macht!!“ Dass die Musik von Echokrank heute keinen mehr nervös oder krank macht, wissen Echokrank. Die „zusätzlichen Töne“ setzen sie weniger „störend“ ein als kommentierend, animierend, wenn sie etwa den Digital-Dancehall-Klassiker „Tempo“ von Anthony Red Rose eins zu eins übernehmen und mit wohlplatzierten Sound-Accessoires mehr drapieren als verfremden.

Rein technisch ähnelt dieses Verfahren demjenigen der US-„Band“ Culturcide, die in den 80er-Jahren aktuelle Pophits bootleggte und bewusst dilettantisch (oder genial dilettantisch, wie man bei Merve damals schrieb) eigene Texten drübersang, in entlarvender, ideologiekritischer Absicht: aus „We are the world“ wurde „They aren’t the world“, „Puttin’ on the Ritz“ verballhornten sie zu „Act like the rich“.

Dass man solche Partyspäße mal als subversive Soundguerilla-Attacke gegen die marode US-Kultur und schwerwiegenden Angriff auf das Copyright zu goutieren bereit war, ist heute schwer nachzuvollziehen. Bei aller Soundguerilla-Störfeuer-Rhetorik – Tracks heißen „Assword Required“ oder „Level Of Technology: Primitive“ – profitieren Echokrank von den affektiven Reizpotenzialen der „fiesen“ und „kranken“ Geräusche.

Sie wissen um die schwindende Halbwertszeit von Störsound-Strategien und sind viel zu sehr Fans von „geilen“ fiesen Sounds. Sonst wären sie nie auf die Idee gekommen, einen aufs nötigste fiese Fiepen reduzierten Digital-Reggae anzukränkeln, und das auch noch jamaican stylee: „Tempo“ eröffnet Seite 2 der LP, „Mehr Tempo!“ – quasi die Dub-Version – beschließt sie.

Überhaupt Jamaika, Blaupauseninsel der Seligen, wo mit Knarf Rellöm gilt: Fehler is King. Ungehindert von der Zwangsökonomie der Gebrauchsanweisung und den Fesseln des Urheberrechts entwickelte sich auf Jamaika eine musikalische Kultur, für die Black Uhuru den passenden Song gefunden haben: Brandnew Second Hand.

Ohne in die exotistisch-romantisierende Rede von der Kreativität des unzivilisierten Wilden zu verfallen, kann man behaupten, dass der spielerische Umgang mit (unsereins) einschüchternder Technologie und das gewohnheitsmäßige Management von Fehler und Mangel in den Studios von Kingston zu so fantastischen Resultaten geführt hat, dass einerseits Jamaika zum gelobten Land wurde, andererseits jamaikanische Errungenschaften weltweit adaptiert wurden: von Bassboxenbauern, Copyrightkillern, Dancehallarchtitekten, Subwoofer-Usern und Anfängern aller Art. So wurden immer mehr Küchen, Wohnzimmer, Büros und Schlafzimmer zu Störgeräusch-Laboren. Sägezahn und fieses Fiepen, Sirenen und Martinshörner, Übersteuern und Verzerren – alarmierender Krach verwandelt sich allmählich in akustische Handschmeichler, während Klimazonen-Kühlschränke, digitale Herde, intelligente Spülmaschinen und autohygienische Wäschetrockner alarmierende Töne absondern, um uns in die ordnungsgemäße Behandlung ihrer Technikkörper einzuüben. Und wie laut das Schweigen der Telefone werden kann, wenn man die Rechnung nicht bezahlt hat! Erkrankung durch Silence.

In einer so veränderten Klangkulisse des Alltagslebens müssen Produzenten von zerstörerischen Schutt-und-Asche-Sounds genau überlegen, wen oder was sie zerstören wollen und wen oder was sie damit (unfreiwillig) affirmieren.

Knistern im Klangfilter

Anschauungsmaterial liefern zwei märchenhafte Schicksale von Sound(d)ef(f)ekten: Ewiges Tonträger-Leben und endgültige Rauschunterdrückung versprachen die Erfinder der Compact-Disc. Nur wenige Jahre waren vergangen seit der kostenintensiven Erfindung von Rauschunterdrückungssystemen wie Dolby. Heute gehört der digital erzeugte Effekt „Vinylkratzen“ zum Standardrepertoire einer Pop-Produktion, künstliches Knistern evoziert Vinyl & Lagerfeuer, Rauschen erinnert an diesen oder jenen Rausch.

Der Berliner Musiker/Produzent/Toningenieur Stefan Betke wurde unter dem Namen Pole bekannt, weil er eines Tages versehentlich einen Pole-Klangfilter fallen ließ, der fortan ein unangenehmes Knistern erzeugte, mit dem Betke seine Tracks dekorierte, das aber von Hörern und Kritikern nicht als unangenehmes, sondern als lagerfeuerhaftes Knistern rezipiert wurde, auch weil sie wussten, dass Betke diese Musik unter dem Namen Pole veröffentlicht, weil er eines Tages versehentlich einen Pole-Klangfilter fallen ließ, der fortan ... ein unangenehmes Knistern erzeugte, mit dem Betke seine Tracks dekorierte, das aber von Hörern und Kritikern nicht als unangenehmes, sondern als lagerfeuerhaftes Knistern rezipiert wurde …

... unangenehmes Knistern erzeugte, mit dem Betke seine Tracks dekorierte, das aber von Hörern und Kritikern nicht als unangenehmes, sondern als lagerfeuerhaftes Knistern rezipiert wurde … … … …

Die musikalische Endlosschleife gibt es nur auf Vinyl. Zeitlos elegant eingesetzt von Heaven 17. „We’re going to live for a very long time“ heißt der letzte Song auf ihrer LP „Penthouse and Pavement“. Und wenn nicht jemand die Nadel runtergenommen hat, dann singen sie noch immer „for a very long time, for a very long time …“

Heinz Strunk: „Computerfreak“ (Nobistor CD); Echokrank (Klangkrieg LP); The Bug: „Pressure“ (Klein Records); „Maximum Pressure – Winston Rileys Productions 1986 to 1991“ (Dancehall Techniques). Mehr unter: www.erkrankung.net, www.digitalkranky.de