: Punk, Duck and Circumstances
Mit der CD-Box „Methodology 74/78“ öffnet die Sheffielder Industrialband Cabaret Voltaire ihr Archiv
Ein Kirchturm ist nichts gegen den Schornstein einer Fabrik. Von der Industrialisierung im Norden Englands begeistert schrieb der Architekt Karl Friedrich Schinkel 1826 an seine Frau über „die rauchenden Obelisken der Dampfmaschinen“ und verglich die Pracht der Produktionsstätten mit Berliner Schlössern. Vieles schien möglich an Utopien im 19. Jahrhundert. 150 Jahre später ist nur ein Ödland aus Stahlöfen und Bergbauminen geblieben, mittendrin Sheffield, 200 Meilen nördlich von London. Die Erinnerung von Richard H. Kirk jedenfalls liest sich wenig hoffnungsvoll: Als er mit Cabaret Voltaire Mitte der Siebzigerjahre am Sound der Region bastelte, dachte er an die Beach Boys und an kalifornische Strände. Aber „in Sheffield gab es keine Wellen, auf denen man hätte reiten können, nur Nachkriegstristesse, Arbeitslosigkeit und hässliche Stadtlandschaften“.
Mittlerweile ist Sheffield eine 500.000-Einwohner-Metropole mit einem viktorianischen Zuckerbäckerstadtkern und Europas größter Shoppingmall. Hier gibt es heute die meisten Grünflächen in ganz Großbritannien, hier herrscht mehr Sicherheit als in jeder anderen englischen City. Aus dem Industriestinkloch Sheffield ist ein masterplanisiertes Modell für Tony Blairs „Cool Britannia geworden“ – ein aufgehübschtes Pendant zu Oberhausen, Bochum und dem Restruhrgebiet. This is the modern world!
Oder auch nicht. Denn für Richard H. Kirk hat sich bei aller Wohlfühlrhetorik, mit der Sheffield für sich wirbt, nichts an den Problemen im Alltag geändert. Noch immer ist die Arbeitslosigkeit extrem hoch, noch immer wird die Stadt von der Unzufriedenheit einer working class geprägt, die zwar Labour wählt, aber über den Regierungskurs enttäuscht ist. Vor allem in Sachen Kriegsbeteiligung. Deshalb hat Kirk letzten Monat als Biochemical Dread eine Platte mit dem Titel „Bush Doctrine“ herausgebracht. Stücke heißen „False King of the Earth“ oder „Zero Democracy Dub“, kombinieren Radiosamples, Beat und Noise – „als Polemik aus Klang gegen die Gier nach Öl“.
Insofern sind Cabaret Voltaire für Kirk noch nicht vollständig Geschichte, eher ein offenes Archiv von den Seventies bis in die Gegenwart. Die jetzt veröffentlichte 3-CD-Box „Methodology“ soll dabei illustrieren, „wie sich Cabaret Voltaire in der Frühphase entwickelt haben“. Gegen den Bombast von Pink Floyd und „gegen den smarten Gitarrenpop der Bürgerkinder von damals“. Kirk, das merkt man beim Gespräch am Telefon, sieht sich mit gut 50 Jahren noch immer auf Augenhöhe zum Underground. „Mit Cabaret Voltaire haben wir Themen aufgegriffen, die im Fernsehen, im Radio oder auf der Straße vorherrschten. Die Arbeitslosigkeit, die Angst vor dem Überwachungsstaat, die entsetzliche Langeweile. Was unter dem Label Industrial Music lief, war der Versuch, die Ideologie hinter der Technik offenzulegen, ein Bewusstsein für das Aufkommen der Informationstechnologie zu schaffen und für die Entbehrlichkeit des Menschen im Spätkapitalismus.“
Es war allerdings auch eine Enttäuschung darüber, dass die etablierte Rockmusik wenig über dieses veränderte Leben besagte. Während dort nurmehr die Virtuosität an Keyboards und Gitarren zählte, waren die Clubs längst voll mit Tänzern, die Soul und Disco liebten. Afrobriten, Commonwealth, Schwule und Hedonisten – sie kamen in Radio-Charts und „Top of the Pops“ kaum vor.
Cabaret Voltaire wiederum suchten nach dem Missing Link zwischen Pomp, Duck und Disco-Punk: „Wir haben uns mit Stockhausen und Cage beschäftigt, weil sie sich für Sound als Bestandteil von Alltag interessierten. Was bei ihnen Theorie war, sollte bei uns tanzbar werden.“ Richtig für den Dancefloor waren ihre auf zig Tapes geloopten Krachspuren trotzdem nicht gemacht. Man merkt zwar die Dominanz der Rhythmusmaschinen und Steven Mallinders aggressiv pumpenden Bass, dazu verfremdeter Nörgelgesang, so wie auf „Nag Nag Nag“, das gerade als Electroclash-Hymne remixt wurde.
Auf „Methodology“ überwiegt aber doch eine Collage aus Minimalismus und Rauschen. Ein wenig Art-School, ein wenig Happening oder wie Kirk im Rückblick meint: „Wir wollten direkte Reaktionen, zweimal die Woche ins Studio, Stücke aufnehmen, dann die Sachen öffentlich machen. Dazu liefen bei Konzerten Super-8-Filme, mit denen ich auch beim Studium an der Kunsthochschule arbeitete. Ähnlich wie im Dadaismus ging es uns bei den Auftritten um ein Environment.“
Heute legt Kirk auf Ibiza Platten auf oder produziert als Sandoz Computer-Reggae; sein Kollege Mallinder lebt in Australien. Cabaret Voltaire sind nach einer gescheiterten Major-Karriere Ende der Achtzigerjahre als Projekt auf Eis gelegt. Was auf CD bleibt, ist ein erstaunlich früher Blueprint für Techno: ein elektronisches Tagebuch aus einer Zeit, als Arbeit mit Industrielärm noch kein Mythos war, als Sheffields Arbeitersiedlungen noch nicht unter Denkmalschutz standen und als Fabriken noch keine Museen waren. HARALD FRICKE
Cabaret Voltaire: „Methodology 74/78 – The Attic Tapes“ (Mute)