: Der Geist von Neuhardenberg
aus Neuhardenberg MATTHIAS URBACH
Den entscheidenden Satz sagt der Kanzler am Samstagnachmittag: „Ja, wir müssen die Strukturreformen machen, auch wenn wir bei den Wahlen dafür abgestraft werden.“ Er blickt dabei über silberne Kaffeethermoskannen und Wasserflaschen in eine legere, aber diskussionsfreudige Runde. Die Klausur in der ersten Etage des Schlosses Neuhardenberg mit Blick in die malerischen Baumkronen des Parks ist gerade bei ihrem schwierigsten Thema angelangt, der Reform der Sozialsysteme.
Es ist eine offene Debatte, in der Gerhard Schröder diesen Satz sagt. Einen Satz, den man von ihm, dem Instinktpolitiker, nicht erwarten würde. Und es spricht für die gute Stimmung im Kabinett, dass ihn Umweltminister Jürgen Trittin schnell unterstützt mit seiner Einschätzung, dass man ohne Strukturreformen vermutlich erst recht abgestraft würde.
Die freundliche Atmosphäre im Schloss wollte auf den ersten Blick nicht so recht passen zu der schwierigen Lage für die Bundesregierung. Wer in die entspannten Gesichter der Kabinettsmitglieder während der Klausur schaute, musste an eine Klassenfahrt denken.
Eigentlich stecken sie ja fest in einer No-win-Situation: Egal was sie anstellen, sie müssen mit gewaltigen Widerständen rechnen. Schließlich geht es ans Eingemachte. Der Staat kann sich die vielen Subventionen nicht mehr leisten.
Die wirtschaftliche Stagnation hat die Koalition verändert. Während der Koalitionsvereinbarung trafen Grüne und SPD recht unversöhnlich aufeinander. Hier die Veränderer aus Prinzip, dort die Bewahrer des sozialen Friedens. Viele in der SPD, allen voran Fraktionschef Franz Müntefering, wollten in der Sozialpolitik schärfere Eingriffe vermeiden. Erste ursozialdemokratische Klientelen müssen nun bluten, sei es wegen der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, sei es wegen des Abschmelzens von Eigenheim- und Pendlerpauschale. Aber auch bei den Grünen setzten sich die drei grünen Minister gegen die Hardcore-Reformer in der Fraktion durch. Ein wenig mehr Schulden seien erlaubt, wenn man damit in der wirtschaftlichen Stagnation einen Wachstumsimpuls setzen könnte. Das widerspricht dem von den Grünen – zusammen mit Finanzminister Hans Eichel (SPD) – so zelebrierten Prinzip der Nachhaltigkeit. Bis zuletzt hatten die Haushaltspolitiker der grünen Fraktion sich gegen mehr Schulden gewandt und damit offiziell die Haltung der Grünen nach außen geprägt.
Ein wenig half auch das Trauma Nordrhein-Westfalen. Der Affentanz der dortigen Koalition unter Peer Steinbrück machte der Berliner Koalition noch einmal so richtig klar, was sie aneinander haben. Der NRW-Streit drang gar bis ins Schloss hinein: Am Freitagabend baten die NRW-Grünen um Beratung. Im Biergarten der Brennerei bei Soleiern und Buletten pressten die grünen Spitzenpolitiker ihre Ohren an die Handys zur Konferenzschaltung: Zum Glück war die Kunde aus Düsseldorf froh.
Umso befreiter ließ sich am Samstag im Schloss debattieren. Auch den Berliner Kabinettsmitgliedern tut es offenbar gut, einmal ohne Tabus die Lage erörtern zu können – und ohne die üblichen Zwänge. An so einem Wochenende schlägt die fröhliche Klassenfahrtatmosphäre auch noch durch, wenn schon einige die Augen verdrehen angesichts solch umständlicher Begriffe wie „Demenzfaktor“, den Sozialministerin Ulla Schmidt in die Debatte um die Pflegeversicherung einführt.
In so einer Atmosphäre werden auch mal offen Meinungsunterschiede ausgetragen: Franz Müntefering merkt etwa an, dass es nicht angehe, mit der Pflegeversicherung auch solchen Alten die Pflege zu finanzieren, die große Reichtümer vererbten. Man könne die Pflegeversicherung nicht ohne eine Reform der Erbschaftsteuer durchführen. Und dann hält Wirtschaftsminister Wolfgang Clement dagegen, dass er einen anderen Familienbegriff habe und durchaus wünsche, dass Besitz weitgehend in der Familie bleibe.
Na ja, Münteferings Ansinnen sei halt der „Sauerlandfaktor“, ulkt einer, und so geht es fröhlich zum nächsten Problem: dem föderalen Aufbau des Landes. Diesmal ist man sich einig, dass die Länderstruktur eine Reform des Bildungswesens blockiert und eine konzertierte Industriepolitik fast unmöglich macht. So spannt die Runde den strategischen Bogen über die gesamte Politik.
Nach der Debatte, bevor es zum Abendessen geht, liest Gerhard Schröder noch ein wenig aus der Biografie des alten preußischen Kanzlers Hardenberg vor, nach dem das Schloss benannt ist. Er sei ein Reformer gewesen, aus Hannover und ein Lebemann. Und jeder kann sehen, wie das den Kanzler freut.
Wären da bloß nicht die vielen Probleme. Aber auch das lässt sich positiv sehen. „Dass die Konjunktur nicht angesprungen ist, bietet jetzt auch eine Chance“, urteilt die grüne Fraktionschefin Krista Sager, „nämlich mit den Strukturreformen anzufangen“. Und selbst Müntefering prophezeit nun seinen Kollegen, dass schon „Ende des Jahre alle schon immer bei den Modernisierern gewesen sein“ wollten.
Die Krise als Chance, eine ganz ungewöhnliche Sicht für eine Regierung, die ja für gewöhnlich für eine Krise verantwortlich gemacht wird. Als sei die Regierung von irgendwo her eingeflogen worden, erklärt Vizekanzler Joschka Fischer zum Abschluss: „Das ist eine Aufbruchsituation. Alle sind jetzt verantwortlich, unser Land voranzubringen.“
Die entscheidende Sitzung am Sonntagmorgen, auf der das Kabinett über das Vorziehen der Steuerreform offiziell befindet und das anschließende Pressestatement abspricht, findet unter einer mächtigen alten Platane im Park des Schlosses statt. Die Presse ist bereits zwei Stunden vor der Pressekonferenz in den Park geladen, damit auch ja jeder den romantischen Anblick auf sich wirken lassen kann. Eine Bilderbuchkoalition im Bilderbuchschloss, so inszeniert sich die Regierung.
Es gehe ihm um eine „Doppelbotschaft“, verkündet der Kanzler schließlich auf der anderen Seite des Parks: „Konsolidierung plus Wachstumsimpuls.“ Und ganz subkutan setzt er noch eine dritte Botschaft an die Wähler ab: Wir haben verstanden, wir machen das.
Für die Außenwirkung mag der Ort der Inszenierung ein wenig zu sonnig gewesen sein und alles einen Tick zu schön und zu entspannt. Nach innen allerdings dürfte das Prinzip Klassenfahrt gewirkt haben, das Streben, den „gemeinschaftlichen Geist“ (Krista Sager) zu stärken. Ausgerechnet in der Krise ist die Koalition so einig wie nie zuvor.