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Archiv-Artikel

Die Furien des Verschwindens

Sein Werk bestand in der Suche nach dem Erhabenen und dem Vollkommenen, das sich nur für einen kurzen Moment zeigt, im Augenblick seines Vergehens: Die Schirn Kunsthalle in Frankfurt widmet James Lee Byars eine große Retrospektive und hält ihm kleinere Fluchtwege weiter offen

Die Verortung an den Rändern und auf Fluchtwegen blieb für ihn bestimmendWas geblieben ist, sind Fotos, auf denenman nicht vielvon ihm sieht

VON ANDI SCHOON

James Lee Byars widmete sich zeit seines Lebens dem eigenen Verschwinden. Er war damit erfolgreich, denn die Kunstgeschichtsschreibung hat keinen Ordner für ihn angelegt und kaum Zuständigkeiten entwickelt – in den einschlägigen Anthologien taucht er schlicht nicht auf. Was geblieben ist, sind Fotos, auf denen man nicht viel von ihm sieht, verlassen dreinblickende Objekte sowie – die vielleicht aufschlussreichste Quelle – eine schier unerschöpfliche Zahl von Anekdoten. Zum Beispiel die vom Zustandekommen seiner ersten Ausstellung: Byars war aus seiner Heimatstadt Detroit nach New York getrampt, um dem bewunderten Maleridol Mark Rothko ein paar seiner Zeichnungen vorzustellen. Nur wusste er nicht, wo Rothko wohnte. Also ging Byars an den Informationsschalter des Museums of Modern Art, wo man ihm erläuterte, dass es nicht üblich sei, die Privatadressen der ausgestellten Künstler herauszugeben. So kam es, dass Byars seine Zeichnungen nicht Mark Rothko, sondern der Frau am Infostand zeigte, die vor Schreck sogleich nach ihrer Chefin läutete. Die herbeieilende Dorothy Miller wurde Byars’ erste Kuratorin, denn sie erlaubte dem seltsamen jungen Mann, seine spartanischen Werke für einen Abend auf den Fluchttreppen des Museums zu zeigen, abseits der Räume kanonisierter Zuordnungen also, dort, wo sich nur arglose Passanten und ein kleiner Kreis von Mitwissern einfinden würden – das war 1958, und Byars war gerade mal 26 Jahre alt, doch die Verortung an den Rändern und auf Fluchtwegen blieb für ihn bestimmend. Weder ging er vollends in den Kategorien des Minimalismus noch in denen von Concept Art oder Fluxus auf, obgleich er den genannten Richtungen mitunter nahe kam.

Nun ist dies nicht, oder zumindest nicht in erster Linie, die Geschichte eines unverstandenen Genies, dem der Zutritt zum Zentrum des Geschehens verweigert wurde. Vielmehr gab es einen guten Grund dafür, dass Byars der einzige ambitionierte Künstler war, der sich Ende der 1950er-Jahre nicht in New York auskannte: Die alte Kultur Japans hatte es ihm angetan, und er setzte alles daran, an den Ort seiner Sehnsucht zu gelangen. Die notwendige Unterstützung dafür kam von Mr. Softi, einem Griechen aus der Detroiter Nachbarschaft, dem Byars einen „griechisch-japanischen“ Garten angelegt hatte. Die Jahre 1958–67 verbrachte er in Kioto und befasste sich mit der traditionellen Bearbeitung von Papier und Stein sowie dem rituellen No-Theater, in dem die maskierten Akteure nur sparsame Bewegungen ausführen. Auch wenn Byars in Japan eine künstlerische Heimat fand, lenkte doch der Unterricht eines gewissen John Cage an der New School for Social Research seine Aufmerksamkeit zurück nach New York. Nicht nur, dass Cage ebenfalls ein Nomade zwischen den Künsten und den Philosophien verschiedener Kulturkreise war; auch propagierte er eine entpersonalisierte Kunst, die alles Genialische zum Teufel jagte. Der Künstler sollte fortan nur noch Rahmenbedingungen für offene Werke schaffen, die erst in ihrer Betrachtung durch den Zuschauer komplettiert wurden. Sooft es die Finanzen erlaubten, reiste Byars an, um Cages Kompositionsklasse zu besuchen, in der es zwar kaum Komponisten gab, die aber dafür zur Keimzelle von Fluxus werden sollte. Was Byars bei Cage um 1960 als experimentelle Praxis kennen gelernt hatte, fand er einige Jahre später in den Schriften von Roland Barthes theoretisch bestätigt: den Tod des Autors, die Erfindung des Publikums und das Scheitern festgelegter Repräsentation.

Keine Frage, Byars war ein Kind des geistigen Klimas seiner Zeit, doch die Details seiner Biografie fügen sich zu einem äußerst originellen Kosmos, dessen Hauptthema in der Suche nach dem Erhabenen bestand, dem Vollkommenen, das sich nur für einen kurzen Moment zeigt, nämlich im Augenblick seines Verschwindens. Dass sein eigener Körper dabei zugleich zum Gegenstand der Verflüchtigung wie maßloser Selbstmythologisierung wurde, gehört zu den Besonderheiten des „großen James Lee Byars“, wie er seine etlichen Briefe gerne unterschrieb. Mit stets verschleiertem Haupt und gewandet in strahlend weiße, rote oder goldene Anzüge versuchte er, die Aufmerksamkeit des Publikums auf etwas zu richten, dass schon im nächsten Moment wieder vorbei sein würde.

Dabei zeigte Byars sich und seine Objekte gerne ohne Ankündigung, auf offener Straße und zu jeder Tages- und Nachtzeit: Die Performance „The Perfect Love Letter Is I Write I Love You Backwards In The Air“ bestand aus der zügigen Durchführung der im Titel beschriebenen Handlung; Byars zeigte sie 1974 vor dem Palais des Beaux-Arts in Brüssel. Ein anderes Mal lud er auf die Terrasse eines italienischen Landhauses ein, um selbst nur für eine Sekunde am entlegenen Ende des Gartens in Erscheinung zu treten. Für die Arbeit „The Death of James Lee Byars“ brauchte es dagegen eine Galerie: In der Mitte eines komplett goldfarbenen Raumes wurde ein Sarkophag platziert, auf dem sich Byars zur Brüsseler Uraufführung 1994 in goldenem Anzug niederließ, sodass sein Körper im Arrangement kaum auszumachen war. Weil die Ausstellung acht Monate lang gezeigt werden sollte, ersetzte er seine Silhouette nach der Eröffnung durch fünf Kristalle. Die Resonanz auf seine Arbeit war seit den 70er-Jahren etwas größer geworden, als Byars Europa zum Zentrum seiner Aktivitäten machte und an der Seite von Joseph Beuys auf Biennalen und documentas auftrat.

Noch unmittelbar vor seinem wirklichen Tod 1995 kündigte Byars an, testamentarisch für die Zerstörung aller seiner Werke zu sorgen. Zum Glück hat er es sich doch noch anders überlegt, sodass die Ausstellung „Leben, Liebe und Tod“, mit der sich die Frankfurter Schirn zurzeit seinem Werk widmet, keineswegs unter Materialmangel leidet. Eher stellte sich die Frage, wie mit dem Nachlass eines Künstlers umzugehen sei, dessen körperliche Präsenz derart eng mit seinen Arbeiten verbunden ist.

Der Kurator und Byars-Freund Klaus Ottmann recherchierte fünf Jahre lang und entschied sich schließlich dafür, Ordnung und Übersicht zu schaffen. Er wählte aus, stellte Zusammenhänge her und brachte die Dinge in chronologische Reihenfolge. So entstand die moderne Präsentation eines postmodernen Künstlers, in der der White Cube die Fluchttreppe ersetzt und westliche Linearität den Platz des Mehrdimensionalen eingenommen hat. Ottmann macht seinen Ansatz transparent, indem er die Ausstellung als „kritische Retrospektive“ bezeichnet. Sie beginnt bei den frühen, japanischen Papierarbeiten und führt über Stoff und Stein bis hin zu ihrem massiven Ende, einer Reproduktion von „The Death of James Lee Byars“. In einem Nebenraum sind leuchtend rote Exponate versammelt, die an den Titel einer Byars-Ausstellung aus dem Jahr 1986 gemahnen: „Beauty goes Avantgarde“.

Und wo, bitte, bleibt das Flüchtige? Im Treppenhaus natürlich, denn dort hängt nicht nur eine Dokumentationstafel des performativen Werks, sondern es wird auch der Film „Autobiography“ (1970) gezeigt, in dem Byars auf genau einem einzigen Bild für eine Vierundzwanzigstelsekunde die Dunkelheit hell aufblitzend unterbricht, sodass seine Umrisse noch auf der Netzhaut nachwirken. Ein paar Stufen höher wird „The Perfect Smile“ (1994) angekündigt, ausgeliehen aus dem Museum Ludwig in Köln. Wer es erleben möchte, muss es schon selbst machen: sich vor die schwarze Wand stellen, kurz mit dem Mundwinkel zucken und sich bündig wieder verziehen. Doch auch in der Haupthalle finden sich Spuren eines Künstlers in Auflösung: Alle halbe Stunde kommt Byars’ Stimme vom Band, wie sie sich einigermaßen hektisch durch den Satz „Perfect Is My Death Word“ haspelt. Erst beim zweiten Hinsehen findet sich auch noch ein Selbstbildnis von 1959 auf dem Boden, das natürlich keinerlei Ähnlichkeit mit Byars hat. Er misstraute dem Abbild und glaubte, dass die Dinge ihre Bedeutung erst durch den künstlichen Akt ihrer Benennung erhalten. Andererseits täuschen seine „vollkommenen“ Kugelobjekte gelegentlich eine falsche Identität vor, denn ihre luxuriös schimmernden Oberflächen sind nicht immer wirklich kostbar. „Perfect“ meint die Abwesenheit von Perfektion, den poetischen Ausdruck der Sehnsucht nach etwas Unerreichbarem. Die erhabene Geste, die uns zwischen den Fingern verrinnt. Vielleicht ist es außerdem ganz gut zu wissen, dass Byars auch ein begnadeter Humorist war.

Abbildungen, Filme, Sprachsamples und erklärende Schautafeln: James Lee Byars ist in der ersten großen Ausstellung seit seinem Tod durchaus anwesend und in gewisser Weise gegenwärtiger als in seinen Performances und Interviews, in denen man ihn immer nur im Zurückweichen erlebte. In der Schirn liegt er als Individuum auf dem Präsentierteller, und um ihn herum zieht sich der Definitionsgürtel enger – keine schöne Lage für einen Künstler, der sich und seine Umwelt permanent in Frage stellte. Dafür arbeiten Ottmann und Direktor Max Hollein eine Qualität in Byars’ Schaffen heraus, die zu seinen Lebzeiten unter den Versteckspielen verborgen blieb: Es geht um wesentliche Dinge, um die Verbindung von Leben und Alltag, das Verhältnis zum Tod, um Schönheit und ihr Verfallsdatum.

Natürlich setzen die Exponate bei aller Überschaubarkeit die Bereitschaft zur Vertiefung voraus, ein Sich-selbst-Erinnern, Erahnen und Ergänzen; ohne Zweifel jedoch wird Byars für die Besucher in Frankfurt greifbarer. Das ist vermutlich nicht in seinem Sinne, aber doch in dem seiner Kunst, denn es braucht den Bezug zu einer schillernden Persönlichkeit, um das Publikum von Ideen der Entpersonalisierung zu überzeugen.

Bis 18. Juli, Katalog (Hatje Cantz Verlag) 24,80 €