: Armut gar nicht so schlimm
Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands schult Sozialreformopfer in Verelendung
Allen sozialromantischen Bedenken und quertreibenden Partei-Abweichlern zum Trotz hat die SPD mit ihrer Zustimmung zur Agenda 2010 den Weg für eine gründliche Entsozialisierung Deutschlands geebnet. Insbesondere Einkommensschwache müssen sich demnach auf einiges gefasst machen. Doch die SPD wäre nicht die SPD, wenn sie denen nicht auch noch einen Rest ihrer inzwischen eher schmierigen Solidarität aufnötigte. Oder wie Franz Müntefering das einmal nannte: „Die Sozialdemokratie läst niemanden im Stich.“ In diesem Sinne will die SPD allen potenziellen Reformverlieren präventiv Unterstützung anbieten. „Hilf Dir selbst“ heißt ein dazu von der Rürup-Kommission angeregtes Schulungsprogramm, mit dem die Opfer des rot-grünen Sozialabbaus zu einem entspannten Leben in Armut angeleitet werden sollen. Nächsten Montag startet das Programm als zunächst mal einwöchiger Testballon in Hamburg-Harburg.
Unter Führung des frisch ernannten Reformopferbeauftragten der SPD Siegmar Gabriel wird dann täglich eine Gruppe „potenzieller Loser“ (Gabriel) auf einem circa dreistündigen Stadtrundgang in allen Tricks und Kniffen unterwiesen, die man für ein Leben am Rande des Existenzminimums braucht. Der langjährige Berber Eberhard Welge, 48, steht bereit, um die Kursteilnehmer „sehr praxisnah in die Kunst des Überlebens“ einzuführen, wie Siegmar Gabriel gestern bei der Vorstellung Welges im Harburger Kurt-Schumacher-Haus ausführte: „Er bringt uns das Schnorren bei und zeigt uns die Supermärkte mit den ergiebigsten Lebensmittelabfällen. Er lehrt uns, Pfandflaschen aus Altglascontainern zu angeln. Er führt uns zu den wärmsten und sichersten Schlafplätzen.“
Auch wenn sich das Überlebenstraining der SPD in erster Linie an Obdachlose, Sozialhilfeempfänger, Langzeitarbeitslose, Mindestrentner, Alleinerziehende oder chronisch Kranke richtet, stehen die Kurse laut Gabriel auch allen anderen Mitbürgern offen, die sich durch die Agenda 2010 existenziell bedroht sehen. Das helfe die Zukunftsängste abzubauen, wie sie sich mittlerweile selbst im bürgerlichen Mittelstand ausbreiteten, weiß Gabriel: „Wer erst mal hautnah erlebt hat, dass arm sein so schlimm gar nicht ist, wird sich weniger Sorgen machen.“
Um die natürliche Armutsscham zu überwinden, sollen die Kursteilnehmer ihr Überlebensgeschick möglichst auch im Selbstversuch testen. Reformopferbeauftragter Gabriel machte es gestern bei einer Pressevorführung des Harburger Kursprogramms schon mal höchstselbst vor. Etwa im Harburger Restaurant „Schlappsupp“: „Haben Sie irgendwas umsonst? Glas Wasser vielleicht. Oder ein Stück trocken Brot?“
Kurz darauf stieß man in der Harburger Flaniermeile Lüneburger Straße auf einen Passanten, der auf einer Bank sitzend Bier aus einer Pfandflasche trank. „Jetzt heißt es“, so erläuterte Übungsleiter Welge den Pressevertretern, „viel Geduld und etwas Glück haben.“ Und tatsächlich: Nach nur fünfzehn Minuten Wartezeit hatte der Passant ausgetrunken und ließ das Leergut stehen, als er ging. Das anschließend von Gabriel eingelöste Flaschenpfand (15 Cent) wurde, darauf bestand der Reformopferbeauftragte, tippelbrüderlich unter den drei anwesenden Pressevertretern geteilt.
Altkleidercontainer können ebenfalls wahre Fundgruben für den einkommensschwachen Mitbürger sein. Berber Welge zeigte der staunenden Presse, wie’s geht – und ehe sie sich versah, war die Kollegin der Harburger Morgenpost glückliche Besitzerin einer zwar nicht mehr ganz modischen, aber durchaus tauglichen und famosen Windjoppe.
Höhepunkt jeder SPD-Exkursion wird aber der Abstecher über die Elbe ins reiche Blankenese sein. Dort sollen die Reformopfer trainieren, Besserverdienende zu behelligen. Selbstverständlich unter Wahrung aller Formen, wie es gestern einmal mehr der Reformopferbeauftragte Gabriel demonstrierte: „Guten Tag“, so hörte man ihn da die Dame eines herrschaftlichen Blankeneser Anwesens becircen, „ich bin von der SPD. Haben Sie was dagegen, wenn wir nächste Woche hier mal von ein paar Leutchen Ihre Mülltonne durchwühlen lassen?“ Beabsichtigter Nebeneffekt der Blankeneser Müll-Übung: So können sich auch schon mal die Reformgewinnler in gelebter Solidarität üben.
Bis zu dreißig Frauen und Männer jeden Alters können sich bei dem Harburger Testlauf nächste Woche pro Rundgang in Verelendung schulen lassen. Seitdem bekannt wurde, dass der Schirmherr der Aktion „Hilf Dir selbst“, Altkanzler Helmut Schmidt, den Rundgang am Mittwoch teilweise mit absolvieren wird, ist dieser Termin restlos ausgebucht. Sonst sind noch an allen Tagen genügend Teilnehmerplätze frei. Treffpunkt ist jeweis um 11 Uhr auf dem Harburger Herbert-Wehner-Platz, Nähe Karstadt. Festes Schuhwerk wird (leihweise) gestellt.
FRITZ TIETZ