: Mit der Shoah im Sessel
Seit gestern sind mehr als 1.000 Interviews mit Überlebenden des Holocaust im Jüdischen Museum zugänglich. Noch sind die Zeitzeugenberichte Rohmaterial – kaum geeignet für ein breites Publikum
VON WIBKE BERGEMANN
„Ich brachte meine Mutter und meine Schwester in die Große Hamburger Straße und verabschiedete mich von ihnen. Ich war sicher, sie nie wieder zu sehen. Heute klingt das dumm. Aber was sollten wir damals tun? Wenn man nicht bereit war, sich zu verstecken, würden sie einen einfach festnehmen. Was konnte man schon tun?“
Gerd Ehrlich blickt ruhig in die Kamera. Der 75-jährige Holocaust-Überlebende sitzt weit zurückgelehnt in einem Sessel in seinem Wohnzimmer und erinnert sich. 1922 geboren, wuchs er in einer alteingesessenen jüdischen Familie in der Mauerstraße auf. Nach der Deportation seiner Familie 1942 tauchte Ehrlich unter. Im Oktober 1943 gelang es dem damals 21-Jährigen, zu fliehen, erst in die Schweiz, später in die USA. Aus dem Off fragt der Interviewer auf Englisch, wie Ehrlich auf den Verlust von Mutter und Schwester reagiert habe. „Ich habe das alles verdrängt. Ich habe es so stark verdrängt, dass ich sogar die Große Hamburger Straße vergessen habe. Als ich in den 80er-Jahren zu Besuch in Ostberlin war, sollte ich einer Frau den Weg zum Bahnhof erklären. Und da erinnerte ich mich plötzlich wieder an diese Straße.“
Das zweieinhalbstündige Interview mit Gerd Ehrlich ist einer von 1.051 Zeitzeugenberichten der Shoah Visual History Foundation, die seit gestern im Jüdischen Museums zugänglich sind: Alle auf Deutsch oder in Deutschland geführten Interviews aus dem Fundus der Stiftung von Regisseur Steven Spielberg sind auf CD-ROM gespeichert und stehen Interessierten im Lesesaal des Museums zur Verfügung. Die Mehrzahl der Berichte stammt von jüdischen Überlebenden. Aber auch Homosexuelle, Zeugen Jehovas, politische Gefangene, Sinti und Roma sowie Befreier wurden befragt.
Ein Katalog soll helfen, sich in dieser umfassenden Sammlung an Filmmaterial zu orientieren. Dort kann nach Namen, Geburtsorten und religiöser Identität, aber auch nach Erfahrungen mit Getto, Konzentrationslager, Versteck, Widerstand, Flucht und Todesmarsch gesucht werden. Eine große Hilfe ist das nicht: Wer gezielt bestimmte Erlebnisse recherchiert, muss sich stundenlang durch Interviews kämpfen.
In zwei Jahren soll das anders werden: Die Shoah Foundation in Los Angeles sichtet derzeit alle 52.000 Zeitzeugeninterviews, um sie zu verschlagworten. Ein Mammut-Projekt: 120.000 Stunden Filmmaterial müssen nach rund 30.000 Schlagwörtern sortiert werden. Dann lassen sich die Interviews auch thematisch durchsuchen. Etwa nach dem Stichwort „Helfer“ – auf die viele Verfolgte angewiesen waren.
Ein trauriges Beispiel: Als Anfang 1942 die Deportationen direkt aus der Fabrik begannen, bat die jüdische Zwangsarbeiterin Hildegard Simon ihren Vorarbeiter um Hilfe. Gegen Bezahlung nahm der Arbeiter die 25-Jährige und ihren Mann in die Einzimmerwohnung auf, in der er mit seiner Familie lebte: „Dann hat er uns einen Vorhang gemacht. Hinter dem Vorhang hatten wir eine Couch für uns beide. Wir haben Geld und Kristall und Porzellan und Teppiche mitgebracht. Und das hat er gesehen. Da haben sie uns nach einem halben Jahr wieder rausgesetzt. Ich habe gefragt: ‚Wie kommen wir an unsere Sachen?‘ ‚Das werden wir sehen‘, hat er gesagt.“
Hildegard Simon und ihr Mann überlebten den Nazi-Terror in einem Versteck in Hönow und gründeten 1946 wieder eine koschere Fleischerei in Berlin. Im Interview schildert Simon keine dramatischen Ereignisse, sondern vor allem, wie sie die vielen praktischen Probleme des Alltags löste. Über zweieinhalb Stunden sind solche Schilderungen einem Publikum allerdings kaum zuzumuten.
Die Leiterin des Projekts am Jüdischen Museum, Etta Grotrian, gibt zu bedenken: „Mit Sammeln alleine ist nichts erreicht.“ Noch seien die Interviews Rohmaterial, mit dem sich in dieser Form wenig anfangen lasse. Dazu müssten sie erst geschnitten und aufgearbeitet werden. „Es ist sinnvoll, verschiedene Berichte miteinander zu kontrastieren“, erklärt Grotrian. Vor allem an Schulen sollen künftig Lehr-CD-ROMs mit Interviewmaterial zum Einsatz kommen. Jedenfalls wenn es nach den Vorstellungen der Shoah Foundation geht. „Zu Anfang sind wir trotz dieser Menge an Material bei den Lehrern auf wenig Interesse gestoßen“, berichtet der ehemalige Manager der Shoah Visual History GmbH in Deutschland, Philipp Graf von Hardenberg. In Zusammenarbeit mit dem Cornelsen Verlag entstand die CD-ROM „Erinnern“, die bisher in neun Bundesländern an den Schulen verteilt worden ist. „Auch die anderen werden wir noch überzeugen“, sagt von Hardenberg.
Neben Schulen steht das Material auch Privatpersonen, Journalisten und anderen Gedenkstätten zur Verfügung. Für Historiker seien die Interviews allerdings nicht sehr wertvoll, schränkt Etta Grotrian ein. „Ein Wissenschaftler verfolgt ein spezifisches Interesse, das hier nicht immer beantwortet wird. Der würde an bestimmten Stellen weiterfragen.“
Ohnehin sind die Zeitzeugenberichte nur beschränkt geeignet, um historische Fakten zu erfahren. Nach 60 Jahren weist jedes menschliche Gedächtnis Lücken auf. Viel interessanter als die geschichtlichen Ereignisse ist daher die persönliche Wahrnehmung der Interviewten. „Die Leute erzählen, was ihnen selbst wichtig war“, so Grotrian.
Für Gerd Ehrlich, den Überlebenden, waren das vor allem Frauengeschichten: 1938 wurde er, wie alle jüdischen Schüler, vom Gymnasium geworfen. „Die jüdische Privatschule hatte den großen Vorteil, dass dort fast die Hälfte der Schüler Mädchen waren. Ich war 16 und lernte dort mehrere nette Freundinnen kennen. Ich habe sie öfter gewechselt.“
So leisten die Zeitzeugenberichte vor allem eins: Sie bringen dem heutigen Zuschauer die damalige Perspektive der Verfolgten näher. „Erst heute erscheint es mir eine schreckliche Situation. Aber das war das Problem mit den Nazis. Die einzelnen Maßnahmen, die sie durchführten, waren nicht schlimm genug, um sich dagegen aufzulehnen“, berichtet Ehrlich.
Besonders beeindruckend sind die kleinen Randbemerkungen, die man fast überhört. Etwa wenn Hildegard Simon über die Zeit im Versteck spricht: „Ich habe immer diese Angst gespürt. Und immer geschaut, ob jemand hinter mir läuft. Das mache ich bis heute, komischerweise.“