: Vom Bilderfressen
DAS SCHLAGLOCH von KLAUS KREIMEIER
Mehr und mehr gewöhnte sich das Publikum daran, die Ereignisse der Welt stärker durch das Bild auf sich wirken zu lassen als durch die Nachricht. Kurt Korff
Wir meinen, Bilder zu betrachten, aber wir fressen sie längst. Wir schieben sie uns ins Hirn, wie wir uns Schokolade, Popcorn, Erdnüsse oder Kekse zwischen die Zähne schieben. Alles in allem haben die Medienpädagogen darauf bis heute keine andere Antwort gefunden als die Erkenntnis, die Kurt Korff schon vor annähernd hundert Jahren fomuliert hat. Korff musste es wissen. In den 90er-Jahren des 19. Jahrhunderts hatte ihn Hermann Ullstein zum Chefredakteur der Berliner Illustrirten bestellt; von nun revolutionierte er mit Hilfe neuer Techniken, der Autotypie und der Momentfotografie, das Verhältnis von Bild und Text, die Zeit-Ökonomie der Presse und die Methodik der Wirklichkeitskonstruktion. Mit Korff und seinen Kollegen in den Redaktionen der Massenblätter in Paris, London und New York begann eine neue Politik des Bildes. Die moderne, technikgestützte Bilderfresserei nahm ihren Lauf.
Im amerikanischen Magazin Time vom 17. Mai sind zwei Fotos zu sehen, die das dialektische Ineinander von Bildproduktion und Bilderkonsum auf den Nenner bringen. Das erste Foto zeigt irakische Männer vor einem Fernsehgerät; auf dem Bildschirm ist das inzwischen zur Ikone des Grauens gewordene Foto des elektrisch verdrahteten, auf eine Kiste gestellten Kapuzenmanns zu sehen. Die Männer präsentieren es dem Fotografen wie ein Heiligenbild, das mit theatralischem Aufwand zur Besichtigung freigegeben wird. Auch das zweite Foto zeigt einen Fernseher mit Folterszene, davor eine Familie in ihrem Heim in Illinois: das Bilder fressende Publikum – fassungslos.
Die Anthropophagie (Menschenfresserei) ist weitgehend erforscht; von der Geophagie – der seltsamen Neigung des Menschen, sich Landmassen einzuverleiben – wissen wir, dass sie im Zeitalter des Kolonialismus ihren Höhepunkt fand und zum Abschluss kam. Über unsere Leidenschaft, Bilder zu verschlingen, wissen wir noch wenig, obwohl die Wissenschaft sie seit etwa 2.000 Jahren einkreist und zu definieren versucht. Noch findet sich der Begriff der „Imagophagie“ in keinem Fremdwörterbuch; darum wird er hier als Hilfe für die weitere Theoriebildung vorgeschlagen.
Wir fressen Bilder in der Erwartung des Schocks. Jedes Mal, wenn uns, wie jetzt im Fall der Horrorbilder aus dem US-amerikanischen Gulag, „schockierende“ Bilder ereilen, brechen neue Bild-Diskussionen aus; die alte Frage nach der Magie der Bilder wird neu gestellt. Wir ahnen nur, dass wir uns in einem Schattenreich bewegen, dass unsere Bildersucht etwas mit dem Tod zu tun hat: mit unserer Obsession, der Vergänglichkeit mit dem „bleibenden Moment“ ein Schnippchen zu schlagen. Dabei verweist gerade die Stillstellung der Zeit auf die Tatsache, dass wir sterben müssen: „Imago“ wurde die wächserne Totenmaske in der römischen Kultur genannt.
Als Bilder machende und Bilder verzehrende Wesen sind wir unablässig auf Beutejagd. „Trophäen“ – so nannte kürzlich die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun die Folterbilder aus dem Irak. Die Schnittstelle zwischen Geo- und Imagophagie hat schon Jean-Luc Godard in seinem frühen Film „Les Carabiniers“ sehr prägnant herausgearbeitet: Zwei Soldaten ziehen in den Krieg, es werden ihnen Länder und Städte versprochen, sie richten Tod und Zerstörung an, und am Ende kommen sie mit Fotografien von Ländern und Städten wieder nach Haus. Aus dem verwirrenden Spiel mit Abbild, Trugbild und Realität schöpft seit geraumer Zeit der Tourismus seine Dividende. Er bietet seinen Kunden Trophäen an, mit denen sie die „Realität“ ebenso wie ihre eigene Fantasie überrumpeln sollen. Aus dieser Wahnsinnsspirale entstehen auch Bilder, in denen sich ganz normale US-Bürger wie Lynndie England oder Charles A. Graner in sadistischen Höllenszenarien präsentieren.
Die elektronischen Massenmedien haben das Problem mit den Bildern potenziert. Politiker wie Rumsfeld machen noch immer Politik wie unter Metternich, dabei tasten längst Kameras (meist die der eigenen Leute) ihre Lager und Folterkammern ab. Das Medium der Kriegsfotografie verändert sich derzeit dramatisch. Wenn jeder Soldat, jeder Militärpolizist, jeder Folterer seine Digitalkamera mit sich führt, werden die Bilder des Schreckens zur privaten Beute, zur Ware (inzwischen werden die Bilder der nackten Häftlinge als Pornografie im Internet gehandelt) – aber auch zum Beweisstück im politischen Prozess.
Die kleine Scheibe, über die wir heute verfügen, die unscheinbare CD-ROM mit ihrer enormen Speicherkapazität, ist heute schon ein Albtraum der Regierung Bush. Man sieht der Scheibe nicht an, was sie enthält. Alarmierender als die Bilder selbst ist das Gerücht, dass es noch viel mehr und noch viel schlimmere Bilder gebe: Bilderlawinen womöglich, denen keine Zensur gewachsen ist. Bilder sind Waffen, gewiss. Aber der Bilderkrieg ist unübersichtlich geworden. Zunehmend richtet sich diese Waffe gegen ihre Produzenten und Auftraggeber.
Die Bilder sind hochgradig inszeniert und ein Bestandteil der Folterpolitik – gleichzeitig führen sie das Lügensystem der Kommandostäbe ad absurdum. Nicht Theorien, sondern die inszenierten Bilder aus Abu Ghraib haben hochnotwendige Schlagzeilen wie „Das Desaster des Westens“ (Spiegel) oder „The Vietnam Analogy“ (New York Times) ausgelöst und Bushs Popularität auf einen Tiefpunkt gebracht.
Evidenz, das Markenzeichen der Fotografie, bezieht sich noch immer auf ein Faktum, auf eine Wirklichkeit vor der Kamera. Aber die Wirklichkeit vor der Kamera ist, wir wissen es längst, eine Wirklichkeit für die Kamera: Dies lässt den Unterschied zwischen den Bildern aus Abu Ghraib und den als „Fälschung“ entlarvten Fotos im Daily Mirror, die angeblich folternde britische Soldaten zeigten, erheblich schrumpfen. Die Bilder aus Abu Ghraib sagen: So war es. Die Bilder des Daily Mirror sagen: So könnte es gewesen sein. Als trainierte Bilderfresser gehen wir routiniert mit dem Material um. Wir wissen: Alle Bilder lügen – sie zeigen eine präparierte Wirklichkeit. Wir wissen auch: Alle Bilder sprechen die Wahrheit – sie sagen auch als Fakes noch etwas über Interessen, über die Hirne ihrer Produzenten, über den Zustand unserer globalen Verhältnisse aus.
Bildvermeidungsstrategien laufen in die Irre. Mit moralischem Pathos feierte die taz am letzten Donnerstag ihre Vogel-Strauß-Politik, als sie anstelle eines Fotos vom Mord am Amerikaner Nicholas Berg eine große weiße Fläche auf der Frontseite brachte. Noch die Inszenierung der weißen Fläche, die ja in der Regel auf einen Zensurfall verweist, evoziert die Existenz dieses Bildes, das wir nicht sehen dürfen und umso beharrlicher mit unserer Fantasie umkreisen. Die Versenkung ins Bild, meinten einst Kirchenväter und Bilderstürmer, könnte die Andacht verfälschen. Das Volk antwortete darauf mit seinen inneren Bildern und mit seiner eigenen nimmersatten, gelegentlich ketzerischen Bildkultur.