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Archiv-Artikel

Gehhilferuf der Alten

Innovationsschub durch Überalterung: Jetzt kommt das Navigationssystem für Rentner

Immer öfter gibt es Staus oder Auffahrunfälle durch Deltarad oder Rollator

Deutschland droht eine Methusalemierung biblischen Ausmaßes, so die allseits bekakelte trübe Prognose. Nur wenige Rentenbescheide noch, und die deutsche Alterspyramide steht Kopf. Unsere Gesellschaft wird dann eine überwiegend seniore sein. Malte man uns das heraufziehende Greisenzeitalter bislang in eher abstoßenden Stützstrumpffarben aus, mischen sich mählich auch fröhlicher stimmende Pastelltöne in die Voraussagen. Danach könnten dem Standort Deutschland durchaus Vorteile aus seiner Vergreisung erwachsen. Die Altenflut wird, so unken Greisenforscher, erheblich zum lang erhofften Wachstum der Wirtschaft beitragen.

Vorneweg wird die traditionelle Senioren versorgende Industrie davon profitieren, dass Deutschland betagter wird. Der Absatz also von Kölnisch Wasser, Inkontinenzwindeln, Branntweinbohnen, Kittelschürzen und Hühnerfrikassee wird ebenso steigen wie der anderer alterstypischer Produkte; diese unförmigen Damen-Häkelmützen etwa oder die extra eingriffgroße Alteherrenfreizeithose in den klassischen Farben Wundwasserorange, Verdorbenesavocadomus und Fleischwurst.

Auch die Anbieter von Danziger Goldwasser, zehnlagigem Klopapier und krummen Haustürgeschäften dürften alles andere als Umsatzeinbrüche verzeichnen. Gleiches gilt für die Hersteller von rutschfesten Badewannenmatten, sicherheitsglasstarken Lesebrillen oder des Zweiten Deutschen Fernsehens. Ferner dürften Züchter kissenähnlicher Hunde, Autoren von nicht zu schweren Schwedenrätseln und die Katzenfutterindustrie von der Überalterung profitieren; Letztere deckt schließlich schon heute vielen Alten den täglichen Mittagstisch.

Wenn aber nach einhelliger Expertenmeinung eine Nachfrage regelrecht boomen wird in unserer alternden Gesellschaft, dann die nach dem dreirädrigen Deltarad oder dem vierrädrigen Rollator. Das sind jene fahrbaren, erstaunlich wendigen Gehhilfen aus Leichtmetall, die, ausgestattet mit lenkbaren Vollgummireifen, feststellbaren Handbremsen und integriertem Einkaufskorb (der in der luxuriöseren Version sogar zum Toilettennotsitz umfunktioniert werden kann), zusehends das Weichbild unserer Städte bestimmen. Regelrecht explodiert ist in den letzten Jahren der Absatz dieser rollenden Krücken. In immer dichteren Kolonnen sieht man damit unsere Senioren über die Gehwege schieben. Schon ist es auf besonders frequentierten Bürgersteigen wiederholt zu Staus und Auffahrunfällen gekommen. Die Kommunen werden gezwungen sein, zur reibungslosen Abwicklung des Fußgängerverkehrs in – möglicherweise sogar mautpflichtige – Gehhilfe-Fahrspuren zu investieren, mit Ampeln, Beschleunigungs- und Überholstreifen, Abbiegespuren und allem, was zu einem ordentlichen Verkehrsnetz gehört. Auch wird man ein Parkplatzsystem für die Stützwagen aufbauen müssen. Schon jetzt verursachen die vor einschlägigen Seniorentreffpunkten wie Sanitätshaus, Tortenbude, Reisebüro oder FAZ-Redaktion massenweise abgestellten Gehhilfen ein heilloses Durcheinander. Vereinzelt haben sich bereits Senioren beim Ein- und Ausparken mit ihren Gehwagen so ineinander verhakelt, dass es zu Stürzen und ernsthaften Blessuren gekommen ist.

Nur eine Frage der Zeit auch, bis die heute noch ziemlich klobig anmutenden, eher mit dem Ruch des Orthopädischen behafteten Gehwagen schickere, windschnittigere Designs erhalten, so die übereinstimmende Ansicht führender Geronto-Designer. Auch die technische Perfektionierung der Stützwägelchen verspricht ein lohnendes Geschäft zu werden. Wie sich die Autoindustrie die Formel Eins leistet zur Erprobung neuer Kfz-Technologien, wird eines Tages die Gehhilfe-Branche ihre Schiebekrücke als hochleistungsstarkes Sportgerät etabliert haben. Es wird zuschauer- und damit reklamegelderträchtige Deltaradrennen und Rollatorwettfahrten geben, und spätestens 2016 könnten Gehhilfe-Rennen in den Rang einer olympischen Disziplin erhoben werden.

Bis dahin sind die gemeinen Gehhilfen auch längst serienmäßig mit einem satellitengestützten Navigationssystem (samt integriertem Kuchenbüfett- und Schnäppchen-Kompass) ausgestattet, so dass auch orientierungslose Alte von A (wie Altersruhesitz) nach B (wie Bowling-Center) rollen können. Auch zur nächsten Toilette lässt man sich dann mit Hilfe des Navigationssystems lotsen. Überhaupt ist ja erhöhter Harndrang ein nicht zu unterschätzendes Problem im Alter, das mit dem bisher vorhandenen Netz an altersgerechten öffentlichen Toiletten kaum zu bewältigen sein wird. Wem also Gehhilfe-Aktien keine überzeugende Geldanlage zu sein scheinen, sollte seine nächste Erbschaft in den garantiert gewinnbringenden Ausbau des Öffentliche-Toiletten-Wesens investieren. FRITZ TIETZ