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Archiv-Artikel

Mit der Störung punkten

In höchster Not spielt Gerhard Schröder die intellektuelle Karte: Mit Gesine Schwan nominierte er eine Intellektuelle als Kandidatin für das höchste deutsche Staatsamt. So nah am Gipfel waren die Erben der engagierten Intellektuellen noch nie

Der Genosse der Bosse hört die Kritik am Spätkapitalismus und belächelt sieDer Störungsfaktor Schwan hat sich schon jetzt der gewünschten Rolle würdig erwiesen

VON ALEXANDER CAMMANN

Des Kanzlers Anruf traf alle unvorbereitet, die Kandidatin eingeschlossen. Leitartikler sprachen abfällig von einer Zählkandidatin. Mittlerweile hat sich das Medienecho dramatisch gewandelt: „Sie ist so unglaublich“, schrieb zuletzt der Stern. Sympathie allenthalben, oft Enthusiasmus schlägt ihr entgegen. Viele einstige Gegner auf der Linken sind mit Gesine Schwan versöhnt: Selbst Peter Glotz, der sie als SPD-Bundesgeschäftsführer 1984 aus der Grundwertekommission der Partei vertrieb, hat den Unterstützeraufruf für ihre Wahl unterzeichnet. Engagierte Frauen haben die Nichtfeministin zähneknirschend als ihre Kandidatin akzeptiert. Doch eine „Frau nach Rau“ ist gar nicht einmal die zentrale Frage: Denn das Geschlecht erscheint in einem Moment, in dem sogar die erste deutsche Kanzlerin Angela Merkel politische Realität werden könnte, für das höchste Amt im Staat als ein eher sekundäres Argument.

Epoche machen wird der 23. Mai in anderer Hinsicht und unabhängig vom Wahlausgang: Zum ersten Mal kandidiert eine Intellektuelle aus einer großen Volkspartei für das Amt des Bundespräsidenten. Zwar hatten die Grünen 1984 die Schriftstellerin und Kim-Il-Sung-Verehrerin Luise Rinser aufgeboten, die der Nation dann erspart blieb. Zehn Jahre später trat ebenfalls auf grünem Ticket der Molekularbiologe und kluge DDR-Oppositionelle Jens Reich an, der auch chancenlos war. Bis heute hatten alle Kandidaten, die Präsident wurden oder doch zumindest Aussichten auf Erfolg besaßen, eine Phase in der aktiven Politik, zumeist als Minister, hinter sich: so auch der schriftstellernde Liberale Theodor Heuss 1949 oder der vielleicht noch der Kandidatin Schwan ähnlichste, der 1959 an Heinrich Lübke gescheiterte Sozialdemokrat Carlo Schmid. All das gilt für die Sozialdemokratin Schwan nicht. Die Wahl einer der etablierten Politik fernen Person in das höchste Amt der Bundesrepublik hat es in der bundesdeutschen Geschichte noch nicht gegeben. So kurz vor dem Gipfel waren die deutschen Intellektuellen noch nie.

Die nunmehr anderthalb Jahrhunderte währende Liaison zwischen linken Intellektuellen und der Sozialdemokratie war oftmals leidenschaftlich und erkaltete häufig rasch wieder. Beide einte, im Unterschied zu den Konservativen, die Zukunft als Maßstab. Utopien einer besseren Gesellschaft und Veränderbarkeit gegenwärtiger Realität durch Interventionen waren für beide die zentralen Kategorien. Weltanschauung und Ideologie orientierten sich nicht mehr primär an dem, was ist, sondern an dem, wie es sein könnte/sollte. Intellektuelle und Sozialdemokratie teilten zudem lange eine teils reale, teils subjektiv empfundene Pariaerfahrung: Die Mehrheit waren fast immer die anderen.

Die Gründerväter der deutschen Sozialdemokratie Marx, Engels und Lassalle waren Intellektuelle; die Partei zog bis heute immer wieder kritische Geistesarbeiter in ihren Bann. Sie wurden innerparteilich oft gemaßregelt (von Eduard Bernstein über den SDS bis zu Gesine Schwan), manchmal erlebten sie eine steile Karriere, die sie in Schlüsselfunktionen und auf Ministersessel brachte (von Karl Kautsky über Rudolf Hilferding bis zu Peter Glotz). Doch nur sehr selten war ihr Einfluss von Dauer. Für die klugen Köpfe gab es unterschiedliche Techniken des Engagements: vom Wechsel aus einer literarischen oder wissenschaftlichen Existenz in politische Ämter bis hin zu einer Rolle als innerparteilicher Begleitmusikant. Der notorische Günter Grass war hier lange Jahre der lauteste Trommler.

Höhepunkt der gegenseitigen Faszination war die Ära Brandt: Der deutsche Geist kniete vor Willy, der es seinerseits in Warschau getan hatte. Man kämpfte in der Sozialdemokratischen Wählerinitiative und unterschrieb Petitionen für die Ostverträge. Der Publizist Klaus Harpprecht wurde Redenschreiber im Kanzleramt, Grass lieferte Stichworte für Regierungserklärungen („Mehr Demokratie wagen“). Da ging man schon mal ein Wochenende lang in Klausur, um an der Rede anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises an Brandt zu feilen: Grass, die Historiker Golo Mann und Eberhard Jäckel sowie Günter Gaus bastelten im November 1971 gemeinsam am Manuskript, ohne Honorar natürlich. Mit dem Ende der Ära Brandt war auch der Honeymoon zwischen Geist und Macht vorbei. Die Sozialdemokratie des Pragmatikers und Ostfront-Leutnants Helmut Schmidt bot für Intellektuelle inner- und außerhalb der SPD sehr viel weniger Projektionsfläche als die des Visionärs und Emigranten Willy Brandt.

Inzwischen sitzt seit sechs Jahren wieder ein ausgewiesener sozialdemokratischer Pragmatiker im Kanzleramt. Doch zu dessen Kernkompetenzen gehört es, mit allen reden zu können, auch mit den Intellektuellen – wenngleich er nicht verschweigt, dass jene zu einer anderen Sphäre gehören, die fallweise nützlich sein kann. „Sie sind dazu da, uns die Arbeit schwer zu machen“ – als Gerhard Schröder im November 2001 mit deutschen Intellektuellen über den Afghanistankrieg diskutierte, erwies er sich durch diese Erkenntnis als Schüler Joseph Alois Schumpeters. Dieser hatte 1946 in seiner Soziologie der Intellektuellen deren zentrale Funktion als „Störungsfaktor“ beschrieben. Tauchten somit an jenem Abend im Kanzleramt plötzlich Frühlingsgefühle in der eingeschlafenen Langzeitbeziehung zwischen Sozialdemokratie und ihren Störungsfaktoren auf?

Zweifel sind angebracht: Zwar hatte Schröder 1998 immerhin mit Michael Naumann einen Journalisten und Rowohlt-Verlagschef zum Kulturstaatsminister gemacht, doch floh dieser bald aus den wenig inspirierenden Niederungen des Politikbetriebs. Stattdessen hörten des Kanzlers Lieblingsgeister nunmehr auf die Namen Jürgen Flimm, Dieter Gorny und Klaus Meine. Schriftsteller blieben jedoch bevorzugte Gesprächspartner des Kanzlers, ob er nun mit Martin Walser über das deutsche Geschichtsgefühl diskutierte oder am vergangenen Samstag mit Henning Mankell über den Zustand der Welt. Und der Nobelpreisträger Grass durfte dem neben ihm sitzenden Schröder bei Alfred Biolek huldigen: Schröder könne zuhören, wie das nur Brandt einst gekonnt hätte.

Herrschaftskritik schien bei deutschen Intellektuellen unter Rot-Grün vollends außer Mode gekommen zu sein. Des Kanzlers Einbeziehungsstrategie funktioniert selbst bei notorisch linken Quälgeistern wie dem getreuen Hannoveraner Soziologen Oskar Negt, der nicht müde wird, Arbeit und menschliche Würde zu fordern, und seit Jahrzehnten unverändert den Spätkapitalismus am Werke sieht. Der Genosse der Bosse hört’s und belächelt es – und Negt kann sich weiter Kanzlerberater nennen lassen.

Der kritikmüde Geist hat sich zuletzt eher auf die Beobachtung verlegt, zumal bei den Jüngeren. Der Dichter Durs Grünbein, bei Kanzlerreisen mit im Tross und bei den Literatentreffen im Kanzleramt häufig dabei, bekannte, dass er keinen Ekel vor der Macht verspüre: „Da ich ein neugieriger Mensch bin, will ich die Macht kennen lernen.“ Er sei geheilt vom Glauben an das unmittelbare Eingreifen durch das Wort. Jemand wie Grass würde dagegen auf die Politik reagieren wie ein enttäuschter Liebhaber. Jedoch eine die Älteren wie die Jüngeren das Interesse an exklusiven Begegnungen.

Die gab es häufig in den letzten Jahren: Die Vertreter des Subsystems Kultur wurden ins Kanzleramt geladen, man sah Filme, hörte Lesungen und betrachtete Bilder und Skulpturen, zusammen mit dem Hausherrn, der bekannt hatte, nach dem 11. September verstärkt die Feuilletons zu lesen. Judith Herrmann stellte ihm dabei eine Frage, die vielleicht das zoologische Interesse der jüngeren Generation am sinnfälligsten bündelte: Ob er, Schröder, mondsüchtig sei?

Ihre Schriftstellerkollegin Juli Zeh hat demgegenüber jüngst die Rückkehr des Engagements als Aufgabe für die Literaten ausgerufen. Vielleicht hat auch der begnadete Instinktpolitiker Schröder die Zeichen der Zeit erkannt und ist mit seiner Kandidatin Gesine Schwan wieder in den Kampf um die kulturelle Hegemonie gezogen. Wie auch immer man diesen Schachzug aus der Defensive heraus deuten mag: Der Störungsfaktor Schwan hat sich schon jetzt seiner gewünschten Rolle als würdig erwiesen. Die Kandidatin sparte nicht mit Tadel; die rot-grünen Reformen seien zu wenig begründet, und überhaupt würde die Ökonomie alles in der Gesellschaft überwuchern. „Kritik als Beruf“: dadurch hatte der Soziologe M. Rainer Lepsius 1963 die Intellektuellen gekennzeichnet. Schwan führte sie wie im sozialwissenschaftlichen Lehrbuch zeit ihres Lebens vor. Auch den „Sachwalter des Universellen“ (Pierre Bourdieu) gab sie bereitwillig: War es in den 1980ern für sie die westliche Freiheit, auch für die Osteuropäer, sollte es zuletzt die Wiedererlangung von „Vertrauen“ sein, an der das deutsche Gemeinwesen genesen werde. Darunter geht es eben für wahre Intellektuelle nicht.

Noch ist es freilich zu früh, angesichts ihrer Kandidatur eine geistig-moralische Wende auszurufen. Doch Gerhard Schröder hat in höchster Not die intellektuelle Karte gespielt – vielleicht vermag er ja mit dem Geist zu punkten, wenn alle anderen Blätter nichts mehr hergeben. Gesine Schwan verkörpert den engagierten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, der sich damals kampfeslustig in die ideologischen Schlachten gestürzt hat. Daraus ist sie fröhlich und siegreich hervorgegangen, mit einem geistigen Traditionsbestand, der auch in diesem Jahrhundert Zukunft hat.

Zweifellos ist sie die originellere Antwort auf die Krise als ein Exstaatssekretär und Ex-IWF-Chef: Versuchen wir es doch mal abseits der eingefahrenen Gleise mit einer kreativen Störerin jenseits des üblichen Politikmilieus. Dann würden auch die Deutschen jene Erfahrung machen, die weiter östlich in Gestalt von Lennart Meri (Estland), Árpád Göncz (Ungarn) und Václav Havel (Tschechien) zuletzt schöne Normalität war: ein Intellektueller für das höchste Amt im Staat.