: Do-it-yourself-Posse
Kalifornischer HipHop der anderen Art: Das Anticon-Label mit Sole, Sage Francis und Themselves im Hafenklang
Es gibt zahlreiche Mythen im HipHop. Neben denen über die sagenumwobenen Tage, da eine an die Tür des Jugendzimmers klopfende Mutter das erste Scratchen provozierte, auch solche wie der vom bösen, glamourös-hedonistischen jiggy HipHop mit den hohen Verkaufszahlen: Dieser nämlich sei mit all seinen Macho-Gesten, den immer gleichen Ärsche-und-Titten-Videos und der Verherrlichung von Gangstertum und sozialem Darwinismus zwar erfolgreich, zugleich aber eine Abkehr vom rechten Weg der Old School mit ihren Werten und Anliegen.
Diese Rede freilich ist von begrenztem Wahrheitsgehalt und längst auf dem Wege zur Floskel. Gleichwohl greifen nicht nur die Rucksäcke tragenden Verfechter des Underground-Ethos gerne darauf zurück. Die Angehörigen genau der Zielgruppe also, die man einem Label wie Anticon zu unterstellen geneigt wäre. Denn die dort gefertigten Beats sind selten auf sportive Höchstleistung angelegt, und die dazu näselnden und nölenden Emo-Rapper stellen nicht gerade übermäßig zur Schau, was der Genre-Mainstream an Reimfluss schätzt.
„Unseren Mangel an künstlerischem Talent oder Ausbildung machen wir wett durch Glück“, sagte Themselves‘ Doseone in einem Interview mit dem britischen Musikmagazin The Wire über die Finden-und-Aufsammeln-Philosophie seiner Posse, „und die Bereitschaft, eine Registrierkasse oder Parkuhr nach Hause in unser Apartment zu schleppen.“ Musikalisch gesprochen: Samples werden ohne Berührungsängste auch aus Abseiten und Schmuddelkellern herangezogen, dafür nimmt man andererseits seltener am genretypischen rat race nach dem originellsten Beat und dem seltensten Funk-Break teil.
Weniger ein bloßes Label als vielmehr eine Art Arbeitszusammenhang, sind bei Anticon die Künstler ihre eigenen Herausgeber, alle machen irgendwie alles, wohnen teils auch noch zusammen in einer Fabriketage in Oakland, und es gibt keine Trennung zwischen kreativem und geschäftlichem Bereich. So ist Tim Holland alias Sole tagsüber für allerlei Business-Papier- und Onlinekram zuständig, nachts schloss er sich ein und nahm ein Soloalbum auf.
Selling Live Water bewegt sich erklärtermaßen am Rand von HipHop, denn dessen Mitte habe ihn gelangweilt, sagt Sole. Wie auch bei den Kollegen Sage Francis und Themselves wird da viel gegrummelt und, scheinbar verquast, an einem dystopisch klingenden Welt-Soundtrack gearbeitet. Gleichwohl gehören Soles Texte passagenweise zu den hellsichtigeren Kommentaren, die das HipHop-Genre überhaupt zur Nach-9-11-Befindlichkeit hervorgebracht hat – nähme ihn jemand zur Kenntnis, könnte Sole es vielleicht einmal zum Michael Moore unter Amerikas Leftfield-Reimern bringen.
ALEXANDER DIEHL
heute, 21 Uhr, Hafenklang