: Der normale Kunde
Todesschütze aus Kreuzberg hatte Waffenschein. Polizei glaubt an ein Beziehungsdrama. Täter erschoss erst seine Exfreundin, dann sich selbst
von HANNES HEINEund JAN ROSENKRANZ
Das „Travolta“ hat zu. Das Fernsehen ist da. Pro 7, das ZDF, RTL und alle. Zeitungen auch. Viele Fragen und kaum Passanten und keine Zeugen mehr, die gesehen haben, was am frühen Montagabend hier geschehen ist, in Kreuzberg, Wiener Ecke Lausitzer. Nur der mickrige Blumenstrauß in der Eingangstür des Lokals, daneben zwei brennende Kerzen, erinnern an den Amoklauf, dem zwei Menschen zum Opfer gefallen sind. Zwei weitere – darunter ein Polizist – wurden schwer verletzt und schweben noch immer in Lebensgefahr. Die Polizei geht von einem Beziehungsdrama aus.
Montag, 17.25 Uhr. Nach Polizeiangaben nähert sich ein 38-jähriger Mann aus Treptow einer 39-jährigen Kreuzbergerin, die vor dem Travolta sitzt und Apfelschorle trinkt. Sie geraten in Streit. Sekunden später zieht der Mann eine Pistole aus dem Hosenbund und schießt der Frau aus nächster Nähe in den Kopf. Sie stirbt noch am Tatort.
Bei der Frau handelt es sich wahrscheinlich um die Exfreundin des Schützen. „Scheinbar hatte die Frau sich vor kurzem getrennt“, sagte der Leiter der Mordkommission André Rauhut.
Am Tatort bricht Panik aus, Leute werfen sich auf den Boden. Der Schütze flüchtet, überquert die Lausitzer Straße und schießt einen Radfahrer nieder. Er ist 31, kommt aus Mariendorf und arbeitet in der wenige Meter entfernten „Bar 11“ als Barkeeper.
Ob sich Schütze und Radfahrer kannten, ist laut Polizei zur Zeit völlig unklar. Im Kiez wurde dagegen gestern immer wieder spekuliert, der Radfahrer habe eine Beziehung zum Opfer gehabt. Indiz: Der Täter habe, auch nachdem der Radfahrer bereits getroffen vom Rad gestürzt war, weitere Schüsse in Schulter, Hals und Kopf gefeuert.
Zeugen versuchten ihn zu verfolgen, aber offenbar konnte der 38-jährige Mann dann unerkannt in die Ohlauer Straße flüchten. Zweihundert Meter weiter betritt er einen kleinen Laden – halb Videothek, halb Kiosk. Hier kauft er eine Packung „Spirit“-Zigaretten und ein schwarzes Feuerzeug, zahlt mit einem Fünf-Euro-Schein und lässt sich die zehn Cent Restgeld auszahlen.
Inhaberin Helga Schoppa, 63 Jahre alt, sitzt zu diesem Zeitpunkt ahnungslos vor der Tür des Ladens. „Er grüßte und verabschiedete sich auch bei mir sehr höflich“, erzählt sie am Dienstagvormittag sehr sachlich. Immer wieder sagt sie das – spricht es in diverse Fernsehkameras, diktiert es in Reporterblöcke und erklärt es am Telefon, das pausenlos klingelt. „Ja, wie ein normaler Kunde, nein, sehr deutsch hat er ausgesehen, groß und dunkelblond, ja.“ Dazwischen bedient sie die Kundschaft, wie jeden Tag. Alles normal, nur die Tageszeitungen sind ausverkauft. Auch Frau Schoppas Sohn, Friederik Beyersdorf, bleibt ruhig, gelassen beantwortet er die Reporterfragen, geduldig zeigt er die Einschusslöcher an einem weißen Kleinwagen auf der anderen Straßenseite.
Montag, kurz nach halb sechs Uhr: Der Täter verlässt den Laden, wünscht Frau Schoppa einen schönen Tag. Kaum ist der unauffällige Kunde auf der Straße, bremst ein Polizeiauto unmittelbar vor dem Laden. Zwei Beamte springen mit gezogenen Waffen heraus. „Stehen bleiben – Hände hoch!“, habe sie als erstes gehört. Dann drohten sie lautstark damit, in die Beine zu schießen. Sie habe schnell die Tür zugemacht, erzählt Frau Schoppa. Weitere Einsatzfahrzeuge rücken an. Trotz mehrfachen Zurufens, sich zu stellen, reagiert der Mann nicht. Nach Angaben der Polizei sei dann ein 43-jähriger Polizeihauptmeister auf den Mann zugegangen. Zeugen wollen gesehen haben, dass beide aufeinander einredeten. Dann habe der Mann dem Polizisten in den Bauch geschossen. Er schwebte nach einer Notoperation auch gestern noch in Lebensgefahr.
Nach weiteren Schüssen auf die anderen Polizisten sei der Mann im Hauseingang Ohlauer Straße 42 verschwunden. Auf einem Hinterhof habe er sich dann selbst erschossen. Laut Angaben des Landeskriminalamtes war der Täter legal im Besitz der Pistole. Er habe einen Waffenschein und sei Mitglied eines Schützenvereines.