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Archiv-Artikel

Auf, auf den Blick nach vorn!

Es ist die Zukunft, nicht die Vergangenheit, die Horst Köhler zu seinemMetier erklärt hat

VON PATRIK SCHWARZ

Das Leben von Horst Köhler, das am Sonntagnachmittag unter der Reichstagskuppel von Sir Norman Foster seinen Höhepunkt erreichen dürfte, begann am Ort eines Verbrechens. In der Nacht vom 27. auf den 28. November 1942 wurde das Örtchen Skierbieszów im Gebiet Zamość, das heute 60 Kilometer vor der Grenze Polens zur Ukraine liegt, von deutschen Einheiten umstellt. Die 2.500 polnischen Bewohner wurden erst auf den Schulplatz gezwungen, wie die FAZ rekonstruiert hat, dann aus ihrer Heimat vertrieben. Viele landeten in Zwangsarbeiterlagern, andere in Auschwitz und Majdanek. Allein im Verwaltungsgebiet Zamość sollen 30.000 Kinder die so genannte Siedlungspolitik der SS nicht überlebt haben. An Stelle der Polen hielten „Volksdeutsche“ aus Gebieten weiter östlich Einzug in Skierbieszów. Unter ihnen war ein Ehepaar Köhler aus Rumänien. Drei Monate später, am 22. Februar 1943, bekamen sie einen Sohn und nannten ihn Horst.

Der künftige Bundespräsident Horst Köhler erwähnt diese Umstände seiner Herkunft meist nur kurz. Die Köhlers sahen sich selbst als Opfer. Zuerst siedelte die SS die Eltern aus der ursprünglichen Heimat der Familie, dem rumänischen Bessarabien, um, das nach dem Hitler-Stalin-Pakt an die Sowjetunion gefallen war. Kurz vor Kriegsende flohen die Köhlers dann vor den Sowjets nach Westen. Er fühle sich trotzdem nicht als Vertriebener, hat Horst Köhler letzthin erzählt, „vertrieben wurden meine Eltern. Ich bin als knapp zweijähriges Kind sozusagen geflohen worden.“ Horst Köhler widerfuhr die Gnade der späten Geburt – so blieb ihm auch die Verstrickung in den Nationalsozialismus erspart. Umso erstaunlicher ist, wie sehr er den Umgang mit dem Dritten Reich in seinen Reden und Interviews der letzten Monate ausgeblendet hat.

Von all den Fragen, über die der langjährige Währungs- und Finanztechnokrat nie öffentlich geredet hat, sind das Hitler-Reich und seine Folgen für Deutschland sicher die schwierigsten. Seine Kandidatur nutzte er, sein schmales Themenprofil zu weiten, indem er sich zur Frauenpolitik ebenso äußerte wie zur Biotechnologie und einem EU-Beitritt der Türkei. Die NS-Vergangenheit bleibt vergleichsweise unbeleuchtet. Wenn Köhler nun ins Schloss Bellevue einzieht, gehört das Reden über Deutschland und seine Geschichte sozusagen zur Jobbeschreibung.

Durch sein Beschweigen des Geschehenen lässt Köhler – absichtlich oder unfreiwillig – ein Geschichtsbild anklingen, das sich stärker kaum unterscheiden könnte von dem seines Vorgängers Johannes Rau: Die deutsche Vergangenheit, obwohl sie das Vertriebenenkind Köhler ungleich härter traf als den Wuppertaler Rau, ist ihm nicht Anlass zur Rückschau, sondern zum Aufbruch, zum steten Nach-vorne-Drängen, in seinem Leben, in seiner Laufbahn und in Deutschland. Die Zukunft, nicht die Vergangenheit hat er zu seinem Metier erklärt. In Skierbieszów ist er nie wieder gewesen. „Aber das wird irgendwann auch noch mal kommen“, sagt er.

Wo Rau mit Fragezeichen nach Deutschlands schwieriger Historie tastete, bläst der Nachfolger zur fröhlichen Reformjagd: Schneller, schlanker, effizienter wünscht er sich den Staat, dessen Oberhaupt er ab 1. Juli ist. Seine Biografie hat er zum Aufstiegsepos verdichtet, Schicksalsschläge bleiben aufs Private beschränkt, die krankheitsbedingte Erblindung seiner Tochter hat er inzwischen oft geschildert. Deutsche Geschichte, das Stammgebiet aller großen Bundespräsidenten der Nachkriegszeit, taucht bei ihm nur auf wie in der VW-Reklame der frühen 50er-Jahre: als Folie, vor der das Wirtschaftswunder erst so richtig erstrahlt. Köhler, der als einziges von acht Kindern studieren durfte, erlebte die Bundesrepublik als Karriereleiter: vom Hilfsreferent im Bonner Wirtschaftsministerium der 70er-Jahre über den Büroleiterjob bei CDU-Finanzminister Gerhard Stoltenberg zu Theo Waigels Staatssekretär und schließlich zum Chef des Internationalen Währungsfonds. Von Verbrechen ist bei Köhler nichts zu vernehmen, von dem deutschen Verbrechen, dem er seinen Geburtsort verdankt, erst recht nicht.

Dabei sind die Schatten seiner eigenen Geschichte an wenigen Orten wohl so präsent wie im Reichstag, wo er sich am Sonntag zur Wahl stellt, und der von den Wechselfällen der letzten 100 Jahre Deutschland zeugt. Wo jetzt das Sonnenlicht durch Fosters Glasdom strahlt, wölbte sich damals eine Kuppel, die an eine wilhelminische Pickelhaube denken ließ. Auf die von Anfang an geplante Widmung „Dem deutschen Volke“ mussten die Parlamentarier lange warten, erst 1916 gab der Kaiser seinen hinhaltenden Widerstand auf. 1933 abgebrannt, 1945 restlos zerstört, 1990 als Kulisse für den Vereinigungsakt aufgehübscht und 1999 als Bundestag wieder in Betrieb genommen, steckt so viel alter Geist in den Gemäuern, dass es schon verwunderlich wäre, wenn Köhler am Sonntag die Gespenster ein weiteres Mal ignorierte, statt sie in seiner Rede zu bannen.

Oder sitzt ihm die Vergangenheit zu sehr in den Knochen? Immerhin, die Graffiti, mit denen sich die Soldaten der siegreichen Roten Armee auf den Sandsteinquadern verewigten, sind von Köhlers Stuhl nur durch die Glaswand des Plenarsaals getrennt. Es waren jene Rotarmisten, die Köhler und seine kleinen Geschwister durch halb Europa trieben, von der ukrainischen Grenze bis nach Mitteldeutschland, wie Sachsen damals geografisch zutreffend hieß.

Doch womöglich schweigt Köhler aus banalen Gründen zur Geschichte. Dunkles liegt ihm nicht. Optimismus ist Pflicht!, lautet ein Motto, das er gerne zitiert. So ist er das Paradox eines Menschen mit Geschichte, aber ohne Vergangenheit. Eine Haltung, die spätestens im Amt problematisch wird: Darf ein Bundespräsident geschichtsvergessen sein?

Doch so einfach ist Horst Köhlers Geschichtspolitik nicht zu fassen. Ausgerechnet ein Mann, dessen Familiengeschichte so tief mit dem Krieg und seinen Folgen verwoben ist, schickt sich an, der erste Bundespräsident der Nach-Nachkriegszeit zu werden. Sein Vorgänger von der CDU, Roman Herzog, war so tief in der alten Bundesrepublik verwurzelt, wie es der Sozialdemokrat Rau war. Für beide kam die deutsche Einheit zu spät, als dass sie daran maßgeblich mitgewirkt hätten. Köhler dagegen, damals gerade 46 geworden, gehörte zu den Beamtenbrigaden, die in den Wendejahren 89/90 in zahllosen Überstunden wie in einem großen Bonner Subbotnik die Währungsunion vorbereiteten. Ein Vierteljahr sei man kein Wochenende zu Hause gewesen, erinnerte sich ein Weggefährte Köhlers neulich.

Insofern ist der Christdemokrat der erste Präsident, der Hand anlegte an beide deutsche Staaten, der als Bürokrat DDR und BRD veränderte, die eine bis zu ihrem Tode, die andere – nun ja. Seine Mitschuld an der wirtschaftlichen und strukturpolitischen Misere des vereinten Deutschlands, die er öffentlich einstand, hat Köhler nie geleugnet: „Wir haben geglaubt, es reiche aus, das westdeutsche System nach Ostdeutschland zu bringen, haben aber nicht verstanden, dass schon damals auch Westdeutschland hätte reformiert werden müssen.“ Fehler seien gemacht worden im Einigungsprozess, heißt das, keine Frage, aber so war das eben, schließlich konnte man die Wiedervereinigung schlecht vorher proben.

Horst Köhler als geschichtslosen Präsidenten zu bezeichnen wäre darum falsch. Nur ist seine Geschichte nicht mehr die NS-Geschichte, sondern eine von Ost und West. Dass die deutsche Einheit bisher so wenig ihre Entsprechung in der Literatur gefunden hat, in einem Roman, der die weltumstürzenden Ereignisse von und seit 1989 angemessen eingefangen hätte, gilt ähnlich auch für die Politik. Zumindest bis Angela Merkel Kanzlerin geworden sein wird, gibt es ihn nicht, den deutschen Politiker beider Hälften.

Köhler könnte in diese Rolle womöglich hineinwachsen, auch wenn er bisher auf eher klischeehafte Weise Kapital zu schlagen versucht aus seinen acht Jahren als Flüchtlingskind in Markkleeberg bei Leipzig. Bei kaum einem Auftritt im Osten lässt er den Hinweis auf diese Zeit aus, ohne ihn freilich mit eigenen Gedanken zum Zusammenwachsen von Ost und West zu verbinden. So teilt er in gewissem Maße eben doch die Ost-Abgewandtheit, die intellektuelle Fantasielosigkeit in Bezug auf den noch ausstehenden Annäherungsprozess der Ost- wie Westdeutschen – eine Fantasielosigkeit, wie sie oft zu finden ist bei der Klasse westdeutsch geprägter Politiker aus Köhlers schwäbischer Wahlheimat. Immerhin, er lebte bis 1953 im Osten und er trug zur deutschen Einheit praktisch bei, das ist mehr, als die meisten Wessis von sich sagen können.

Sein Bild von der Gesellschaft, deren oberster Repräsentant er ab 1. Juli sein wird, ist für Ost und West einigermaßen gleich: Deutschland, einig Krisenland. Und vielleicht liegt ja, in fast ironischer Weise, die Gemeinsamkeit der Deutschen in der Amtszeit Horst Köhlers genau darin – unter der Krise von heute stöhnen erstmals nicht nur die traditionell leidgeplagten Ostler, sondern die Westler ebenso.