Beflügelter Fortschritt

Die Sensation für Kambodscha: Jetzt gibt es die ersten Rolltreppen im Land der Khmer

„Sorya Shopping Center“ heißt die erste Einkaufs-Mall Phnom Penhs. Erst im Mai des vergangenen Jahres hat man sie eröffnet, um die Ecke vom „Psar Thmei“, der „Neuen Markt“-Halle, erbaut noch von den Franzosen. Dort gehen die Touristen hin und machen ihre Fotos. Doch was ist dieser Markt schon, verglichen mit dem neuen Einkaufstempel? Klimatisiert sei er, erzählt man uns, auf allen fünf Etagen, und echte Rolltreppen gebe es dort, zehn Stück, die allerersten des Landes. Die müsse man gesehen haben.

Das lassen wir uns nur fünfmal sagen, dann stehen wir im Erdgeschoss der Mall, vor den neuen Wundertreppen. Es sind tatsächlich prächtige Exemplare, mit Glasgeländern und gelb markierten Stufen, gebaut und geliefert von der Firma Suzhou Elevator Co. Ltd. aus China. Auch eine kleine Gruppe tiefbrauner, zerlumpter Kinder staunt. Sie ist mit uns hereingeschlüpft, vorbei am gar nicht so argusäugigen Wachpersonal. Jetzt steht jedem kleinen Khmer nur noch ein Gedanke ins Gesicht geschrieben: fahren. Bevor es aber losgeht, gilt es eine neue Hürde zu überwinden. Das sind die Rolltreppenwächter, die sich an jedem Aufgang postiert haben. Die Geschäftsführung hat sie extra angestellt, um erstens die Khmer den Umgang mit den neuen Treppen zu lehren und zweitens allen Unfug zu verhindern. Jeder Wachmann trägt eine blaue Uniform mit einer gelben Kordel, die von der Schulter baumelt, und guckt so streng und wichtig, wie es einem Khmer nur möglich ist.

Die Kinder warten, bis der Wächter im Erdgeschoss mal wo hin muss. Dann fasst sich ein zehnjähriger Junge ein Herz. Er nimmt seine kleine Schwester auf den Arm und starrt auf die Stufen, die da eine nach der anderen aus dem Boden kommen. Zehn Sekunden wartet er, fünfzehn, wir glauben, seine Anspannung selbst zu spüren. Endlich macht er den entscheidenden Schritt. Mit der linken Hand hält er die Schwester, mit der rechten umklammert er fest das Handlaufband. Andere Kinder sind schnell mutiger. Sie springen auf die Treppe, fahren bis zur halben Höhe und laufen gegen die Fahrtrichtung wieder runter. Es dauert nicht lange, da pfeift sie der wieder aufgetauchte Treppenwart zurück.

Er kommt gerade rechtzeitig, um zwei alten Damen zu helfen. Beide haben ein buntes Krama um den Kopf geschlungen, das traditionelle Schweißtuch, unter dem sie etwas ängstlich hervorlugen. Die Sache ist ihnen nicht geheuer. Vielleicht verschwinden diese seltsamen Stufen, gerade wenn man mitten auf der Treppe ist? Der Treppenwächter beruhigt die Damen. Erst fasst er die eine, dann die andere am Arm und geleitet sie vorsichtig auf die erste Stufe. Und schon schweben sie, ein zaghaftes Lächeln auf den Lippen, ganz wie von selbst nach oben in den ersten Stock.

Dort gibt es Boutiquen, wie man sie vor zwei Jahren in Phnom Penh noch nicht sah. Die meisten bieten Kleidung an, Röcke, Blusen, Schuhe – schicke, teure Sachen. Die Läden haben hier allesamt englische Namen, und jeder beschreit Internationalität und Fortschritt. „World Style“, „The Best Shop“, „New Modern“ oder „Davy Selling Modern Shoes“. Schön wär’s. Die Läden, erzählt man uns, verkaufen wenig. Sie sind für Leute gedacht, die auf Khmer menuh mien heißen – „Haben-Leute“, die neuen Reichen von Phnom Penh. Doch davon gibt es noch zu wenig.

Immerhin. Ein paar kommen uns bei unserer Fahrt nach oben entgegen. Sie müssen beim Betreten der Rolltreppe nicht mehr nach unten sehen und sich nicht festhalten. Es sind Männer in gebügelten Hemden und geschminkte junge Frauen mit heller Haut, in Jeans oder asymmetrisch geschnittenen Röcken. Für diese Leute und ihre Kinder hat man im dritten Stock sogar eine Hamburger-Braterei eingerichtet. Aber auch die Filiale der lokalen „Barbecue World“-Kette will nicht so recht laufen, obwohl man doch das „M“-Logo des großen amerikanischen Vorbilds ganz dreist kopiert hat, wenn auch auf den Kopf gestellt.

Als wir auf den chinesischen Wundertreppen in den fünften und allerletzten Stock gleiten, werden wir endlich dafür belohnt, dass wir den mannigfachen Einflüsterungen am Ende doch noch nachgegeben haben, denn durch die großen Panoramascheiben des „Sorya Centers“ hat man wohl den schönsten Blick auf die kambodschanische Hauptstadt. Unter uns sehen wir den Psar Thmei, der da hockt wie eine fette gelbe Kröte. Im Norden erkennen wir die Spitze des Wat Phnom, im Süden glänzen die Dächer des königlichen Palastes in der Sonne. Irgendwo da unten soll es auch einen Geldautomaten geben, den ersten und einzigen des Landes. Niemand besitzt zu ihm eine Karte. Er ist nur einfach da, als Zeichen dafür, dass das, was man den Fortschritt nennt, auch irgendwann mal nach Kambodscha kommen wird. Auch das „Sorya Shopping Center“ ist so ein Zeichen. Bis es so weit ist, bleibt es ein Abenteuerspielplatz für Straßenkinder und alte Damen.

CHRISTIAN Y. SCHMIDT