: Moral ersetzt Logik
taz-Serie „Konjunktur beleben“ (Teil 4, Schluss): Wer für Verschuldung plädiert, gilt als lasterhaft. Doch wer sagt, ein Staat dürfe nicht mehr ausgeben als einnehmen, liegt falsch
Die aktuelle Diskussion um zusätzliche Schulden des Staates oder zusätzliche Sparanstrengungen ist an Absurdität kaum zu übertreffen. Inzwischen müssten auch die hartleibigsten Schuldenfresser begriffen haben: Sparpolitik führt nicht aus der Schuldenfalle heraus, sondern geradewegs in sie hinein.
Man kann Finanzminister Hans Eichel ja vieles vorwerfen – aber ihm ist nicht zu unterstellen, dass er nicht versucht hätte, durch massives Sparen die Staatsfinanzen in den Griff zu bekommen. Kein Amtsvorgänger hat so rigoros in Besitzstände eingegriffen und die Ministerkollegen an die Kandare genommen wie der Sparminator aus Hessen. Die geplanten Ausgaben des Bundes sind in den letzten drei Jahren immer weit hinter dem erwarteten Wachstum der Wirtschaft zurückgeblieben. Genutzt hat es nichts. Auch der Vorwurf, Eichel hätte die guten Jahre nicht zum Sparen genutzt, ist abwegig: 1999 und 2000, als die Konjunktur lief, hat er gespart, die staatlichen Defizite sind deutlich zurückgegangen.
Der grandiose Misserfolg des sparfreudigsten Finanzministers der deutschen Geschichte ist nur zu verstehen, wenn man das gesamtwirtschaftliche Umfeld mit ins Bild nimmt: Eichel spart, doch die privaten Haushalte und die Unternehmen sparen auch. Die Privatleute, weil ihre Einkommen nicht mehr steigen und man ihnen jeden Tag erklärt, dass der Staat Leistungen kürzt. Die Unternehmen sparen, weil ihnen Eichel und die Privathaushalte das Geschäft verderben. Ob die Bauunternehmer Arbeiter entlassen, weil die Gemeinden kein Geld für Investitionen haben, oder die Autobauer Rabatte gewähren, weil zu viele Kunden arbeitslos sind – immer ist das Ergebnis das Gleiche: Wenn auch die privaten Haushalte sparen, sinken die Gewinne der Unternehmen exakt um jeden Euro, den Hans Eichel einspart.
Weil die Unternehmen nun ihrerseits Kosten senken, Arbeitskräfte entlassen oder Pleite gehen, holen die Defizite, die der Finanzminister verhindern wollte, ihn am Ende wieder ein. In letzter Instanz fallen Schulden immer auf den Staat zurück. Irgendwann muss der Staat das begreifen und die höhere Verschuldung akzeptieren statt der Spirale nach unten eine neue Drehung hinzuzufügen.
Davon sind wir weit entfernt. Noch immer gilt die einfache Regel: Wer für Verschuldung ist, irrt, wer gegen Schulden ist, hat Recht. Wenn heute ein Politiker behauptet, wir lebten über unsere Verhältnisse, wird er von allen Zeitungen sofort zum ausgewiesenen Fachmann und zum moralischen Gewissen der Nation erklärt. Wenn einer aber schreibt, Deutschland lebe unter seinen Verhältnissen und Sparen sei gefährlich, gilt er als lasterhafter Spinner. Logik, die nicht in eine Schlagzeile passt und die jeder Hausvater versteht, hat in der medialen Welt keine Chance.
Kürzlich schrieb ein Kolumnist im Feuilleton einer großen deutschen Tageszeitung, durch die ökonomische Krise sei inzwischen fast allen klar, dass man sich in Deutschland an seine Verhältnisse anpassen müsse; über ihnen könne man auf Dauer nicht leben. Man müsse endlich dem moralischen Imperativ folgen, dass „man nicht mehr ausgeben darf, als man einnimmt“.
Nichts hat das wirtschaftliche Denken in Deutschland in den vergangenen Jahren mehr geprägt als der feste Glaube an die moralische Instanz der „Verhältnisse“. Diese sind schlecht, und wir müssen uns anpassen, koste es, was es wolle. Insbesondere der Staat ist überschuldet und muss auf lange Zeit den Gürtel enger schnallen. Doch der Satz: „Man darf nicht mehr ausgeben, als man einnimmt“ mag moralisch wertvoll sein – leider hat er die Logik nicht auf seiner Seite. Betrachtet man die Welt als Ganzes, erkennt man den Unsinn des Satzes sofort, weil er dann lauten muss: Man kann nicht mehr ausgeben, als man einnimmt. Da der von Menschen besiedelten Welt niemand Geld von außen leihen kann, ist sie immer auf ihre Verhältnisse zurückgeworfen.
Immerhin könnte es ja sein, dass die Deutschen auf Kosten anderer Völker leben, sich also gegenüber dem Ausland verschulden. Das ist aber nicht so, Deutschland exportiert per saldo Kapital in den Rest der Welt, insbesondere in die USA und viele Entwicklungsländer, weil es im Handel mit diesen Ländern Überschüsse erzielt, also mehr einnimmt, als es ausgibt. Folglich leben höchstens die anderen über ihre Verhältnisse. Gemessen an der globalen Bilanz lebt Deutschland zweifellos unter seinen Verhältnissen.
Womöglich gibt es in Deutschland wichtige gesellschaftliche Gruppen, die regelmäßig viel mehr ausgeben, als sie einnehmen. Das ist es, werden die meisten sagen, der Staat, aber auch viele private Haushalte und viele Unternehmen leben über ihre Verhältnisse. Wenn das so ist, sagt die Logik, dann muss es auch Gruppen geben, die unter ihren Verhältnissen leben, wenn Deutschland insgesamt nicht über seinen Verhältnissen lebt. Noch schlimmer: Wenn man sagt, man dürfe nicht mehr ausgeben, als man einnimmt, dann muss man auch sagen, keiner dürfe mehr einnehmen, als er ausgibt. Was exakt heißt: Keiner darf mehr sparen.
Das lässt sich leicht zeigen. Wollen nämlich alle sparen, finden wir schnell heraus, dass das böse endet. Stellen wir uns vor, jeder in Deutschland, auch der Staat, gäbe jeden Monat 10 Prozent weniger aus, als er einnähme. Alle gingen zur Bank, um ihr Geld anzulegen. Was würde die Bank tun? Sie würde das Geld zurückweisen, weil es ja niemanden gibt, der es von der Bank wieder ausleiht und ausgibt, so dass sie keine Zinsen bezahlen könnte.
Schlimmer aber ist, dass schon im zweiten Monat alle genau 10 Prozent weniger Einnahmen hätten, weil alle 10 Prozent weniger ausgegeben hatten. In der Gesamtwirtschaft sind immer die Einnahmen des einen die Ausgaben des anderen. Wird weniger ausgegeben, wird auch weniger eingenommen. Würden trotzdem alle wieder 10 Prozent des nun 10 Prozent geringeren Einkommens sparen, hätten sie schon nach zwei Monaten fast 20 Prozent ihres ursprünglichen Einkommens verloren. Da braucht es nicht lange, bis Deutschland die internationale Armutsgrenze von einem Dollar pro Tag erreicht hätte.
Einige wenige in der Bundesregierung scheinen das endlich verstanden zu haben. Sie wissen, dass es nach einer dreijährigen Stagnationsphase nicht darum geht, irgendeine neue Grausamkeit zu begehen, sondern darum, die Stimmung zu drehen, Mut zu schaffen, die Masseneinkommen zu erhöhen und nicht zu senken. Sie wissen, dass jedes Sparpaket nur zu neuen Löchern führen würde, weil die Konjunktur abgewürgt würde, und haben erkannt, dass die bisherige wirtschaftspolitische Diskussion in Deutschland auf dem Kopf steht.
Nun müssen wir nur noch beobachten, ob die wenigen sich am Ende trauen, das, was sie wissen, auch deutlich zu sagen, und ob sie damit der Logik zum Sieg über die Scheinmoral verhelfen werden. HEINER FLASSBECK
In der Reihe erschien Teil 1 (Jens von Scherpenbeck) am 6. 5., Teil 2 (Gert G. Wagner) am 8. 5., Teil 3 (Rudi Hickel) am 15. 5. 2004