: Forschen ohne Verstand
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung meint: Je kürzer Arbeitslose unterstützt werden, je schneller finden sie einen Job. Doch das ist wissenschaftlich verbrämter Unfug
Stellen Sie sich vor, Sie sind 55 Jahre alt, die Arbeitslosigkeit ist allgemein hoch, Ihr Betrieb ist in Schwierigkeiten oder Ihr Chef gibt Ihnen zu verstehen, dass es nicht schlecht wäre, wenn Sie Platz für Jüngere machen würden. Irgendwann wird es Ihnen zu bunt, und Sie nehmen das Angebot an, zu gehen, weil zudem der Staat verspricht, bis zur endgültigen Pensionierung Ihre Einkommenseinbuße durch eine großzügige Absicherung in der Arbeitslosigkeit relativ gering zu halten.
Wenn Sie das tun, schreibt nun das angeblich renommierte Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, DIW, in Berlin, haben Sie zum Entstehen von Arbeitslosigkeit oder zur Verlängerung der Dauer der Arbeitslosigkeit beigetragen. Wie, werden Sie sagen, sind die beim DIW verrückt, ich habe das doch nur gemacht, damit die Firma nicht jüngere Leute entlassen musste, beziehungsweise, damit ein jüngerer Arbeitnehmer eingestellt werden konnte. Wenn die Übergangsregelungen nicht so großzügig gewesen wären, hätte ich es finanziell nicht machen können, und jüngere Leute wären arbeitslos geworden oder hätten erst gar keine Stelle gefunden.
Allen Ernstes konstatiert das wissenschaftliche Institut jedoch (in seinem Wochenbericht 25/2003, Seite 407), die starke Ausweitung der Anspruchsdauer auf Arbeitslosengeld habe (bei Männern) die Arbeitslosigkeit erheblich ansteigen lassen, und folgert daraus, wenn man, wie in der Agenda 2010 vorgesehen, die Anspruchsdauer nun verkürze, werde sich das positiv auf die Dauer der Arbeitslosigkeit auswirken. „Errechnet“ wird ein solch bahnbrechendes Ergebnis mit einem „Mikrosimulationsmodell“. Das verleiht der Arbeit natürlich eine Wissenschaftlichkeit, die jeden gesunden Menschenverstand in den Schatten stellt. Dass das Modell den Wirkungszusammenhang von der Arbeitslosenunterstützung hin zur Arbeitslosigkeit älterer Menschen korrekt abbildet, lässt aber nicht den Schluss zu, dass die Kürzung dieser Unterstützung bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hilft. Wie immer können Modelle nicht die Mühe des Denkens ersetzen.
Zwischen 1985 und 1987 hat eine konservative Regierung in Deutschland die Anspruchsdauer beim Arbeitslosengeld für ältere Arbeitnehmer verlängert, weil man den jungen Menschen angesichts immer noch hoher allgemeiner Arbeitslosigkeit eine größere Chance geben wollte, einen Job zu finden. Wenn mehr ältere Mitarbeiter, so die nicht ganz falsche Überlegung, dieses Angebot nutzen würden, könnten die Betriebe auch bei geringer Auslastung ihrer Kapazitäten die Altersstruktur ihrer Mitarbeiterschaft verbessern, und weniger junge Leute stünden auf der Straße. Die Betriebe haben die Subvention des Staates gerne genutzt, weil sie auf diese Weise ohne große arbeitsrechtliche Auseinandersetzungen ihre Belegschaft verjüngen konnten. Folglich ist durch diese Regelung selbstverständlich die Zahl der älteren Arbeitslosen und damit auch die Zahl der Langzeitarbeitslosen gestiegen. Das war ja das Ziel der Maßnahme: Dass die einmal aus dem Erwerbsleben Ausgeschiedenen wieder kurz vor ihrer Verrentung einen Job finden oder auch nur suchen würden, hatte sicher niemand erwartet.
Der Erfolg der Verlängerung der Anspruchsdauer für Ältere müsste folglich daran gemessen werden, ob Jüngere leichter einen Job gefunden haben. Das nachzuweisen, ist zugegebenermaßen schwierig; das Institut versucht es jedoch erst gar nicht und erwähnt den Zusammenhang nicht einmal. Es begnügt sich damit, die steigende Arbeitslosigkeit der Älteren zu konstatieren, und zieht den klassischen Fehlschluss, weil deren Arbeitslosigkeit steigt, müsse man nur den Anspruch wieder senken, um wirtschaftspolitisch erfolgreich zu sein.
Das ist glatter Unsinn, weil die Abschaffung der – staatlich finanzierten – Arbeitszeitverkürzung für die Älteren es den Jüngeren nur schwerer macht, einen Arbeitsplatz zu finden. Die Zahl der Arbeitsplätze insgesamt steigt durch die Aufhebung der großzügigen Arbeitslosengeldregelung für Ältere ja wohl ebenso wenig wie sie durch ihre Einführung vor 16 Jahren gesunken ist. Der Titel des Berichts „Senkung der Arbeitslosenunterstützung: Weniger Arbeitslosigkeit, mehr Effizienz“ erweist sich als schlicht falsch. Der auf ähnlichen Überlegungen beruhende Plan der Bundesregierung in der Agenda 2010 wird glatt scheitern.
In einem solchen Fehlschluss kommt aber auch eine generelle Verwirrung um Arbeitszeit und Arbeitsplätze zum Ausdruck. Es gibt sicher gute Gründe dafür, die Verkürzung der Arbeitszeit nicht für ein Wundermittel zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit zu halten. Aber daraus folgt doch nicht, dass in Zeiten extrem hoher und steigender Arbeitslosigkeit eine Arbeitszeitverlängerung angesagt wäre. Arbeitslosigkeit ist jedenfalls für die Betroffenen eine unfreiwillige Verkürzung ihrer Arbeitszeit auf null, die vom Staat subventioniert wird.
Wer Arbeitszeitverkürzung für alle fordert, hofft immerhin, dass dadurch die vorhandene Arbeitslosigkeit etwas gleichmäßiger verteilt wird. Das macht einen gewissen Sinn, weil das Ausgangsproblem eine Verminderung der gearbeiteten Stunden war. Wohin will aber ein Befürworter der Arbeitszeitverlängerung? Weil steigende Arbeitslosigkeit weniger Arbeit bedeutet, so offenbar die Logik, müsse man jetzt nur mehr Arbeit fordern, dann verschwinde die Arbeitslosigkeit wieder.
Obwohl das an Absurdität kaum noch zu überbieten ist, vergeht kaum ein Tag, an dem nicht ein wichtiger Politiker oder ein „Arbeitsmarktexperte“ mit sorgenvollem Blick auf die Alterung der Gesellschaft im Jahre 2030 verkündet: Wir müssen mehr arbeiten. Woher er die Arbeit bei Nullwachstum der Wirtschaft nehmen will, sagt er natürlich nicht – und fragt ihn natürlich auch niemand. Selbst die internationale Wettbewerbsfähigkeit muss zur Begründung von Arbeitszeitverlängerung herhalten.
Wie weiland Graf Lambsdorff verweisen die Experten auf Länder, wo die Menschen viel mehr Stunden kloppen als die Deutschen. Wenn also ein Taiwaner (bei Lambsdorff waren es Anfang der 80er-Jahre noch die Japaner, aber die gelten heute nicht mehr so richtig) 14 Stunden am Tag ackert, ist das für die Wettbewerbsfähigkeit seines Landes viel besser, als wenn zwei Taiwaner jeweils sieben Stunden arbeiten, obwohl sie alle pro Stunde das Gleiche verdienen. Und das gilt nach dieser abstrusen Ökonomie selbst dann, wenn die Produktivität der beiden pro Stunde nicht höher ist als die des einen, der sich halb tot arbeitet.
Wer will, dass wir mehr arbeiten, muss die Arbeitslosigkeit beseitigen. So einfach ist das. Ohne ein Rezept dazu hilft weder die sinnlose Debatte um eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit noch eine Verteufelung von Arbeitszeitverkürzung. Beides führt ohne durchgreifenden Erfolg am Arbeitsmarkt nur dazu, dass die Arbeitslosigkeit der Jüngeren steigt, weil der Staat die Älteren zwingt, bis zum letzten Tag auszuharren. HEINER FLASSBECK