: Das Beileid bleibt fremd
aus Überlingen und BerlinKIRSTEN KÜPPERS
Sulfia Achemetowa steht im nassen Gras und guckt in die Landschaft, in diese schöne Bodenseelandschaft, wo irgendwo zwischen dem See, den Hügeln und den Obstwiesen die Leiche ihres Sohnes Arsen vom Himmel gefallen ist. In einer milden Sommernacht wie dieser. Genau vor einem Jahr. Fünfzehn Jahre war ihr Sohn erst alt, sagt Sulfia Achemetowa. Eben hat es ein wenig geregnet. Und wenn die kleine dunkelhaarige Frau jetzt also hier auf einem Hügel oberhalb von Überlingen steht und auf die Apfelbäume guckt und runter auf die Felder und den See, wo die ganze grausame Unbeschwertheit eines Sommers die Menschen mit ihren Spaghetti-Träger-Hemdchen, Eisdielen und Paddelbooten trotz des kurzen Regenfalls längst eingeholt hat, dann steigen die Tränen in Sulfia Achemetowa hoch.
Vor einem Jahr, am 1. Juli 2002, ist es passiert, dass zwei Flugzeuge um 23.35 Uhr über dem Bodensee zusammengestoßen sind. In der Passagiermaschine vom Typ Tupolew saßen 49 Kinder und Jugendliche aus der russischen Teilrepublik Baschkirien und ihre Betreuer auf dem Weg nach Spanien. Die UN-Kulturorganisation Unesco hatte die Kinder wegen herausragender Leistungen zu der Reise eingeladen. Die Tupolew kollidierte mit einer DHL-Frachtmaschine, in der sich ein Flugkapitän und sein Kopilot befanden. Keiner der Beteiligten überlebte den Zusammenstoß, die Katastrophe forderte 71 Tote.
Angelika Morath-Müller hat es vom Fenster ihres Einfamilienhauses gesehen, sie stand im Nachthemd da und wollte gerade ins Bett. „Es war ein lauter Knall, die Fenster zitterten, und ein Feuerball am Himmel“, sagt sie. Und alles, was danach kam, war schlimm. Die toten Kinder in den Obstbäumen, die Leichenteile in den Feldern. Wochenlang bargen hunderte von Helfern in Überlingen und Umgebung die Trümmer. Angelika Morath-Müller erzählt von einem Bekannten, der einen kleinen Finger gefunden hat mit einem Ring dran. „Nur ein Finger!“, ruft sie. Andere haben Wrackteile aus den Blumenbeeten gezogen, Metallscherben, Kinderrucksäcke und Spielzeug. Angelika Morath-Müller ist eine beherzte Frau, 50 Jahre alt. Sie hat eine lange Ehe zusammengehalten und Kinder großgezogen. Jetzt trägt sie eine moderne, blonde Kurzhaarfrisur mit frechen Strähnchen und sitzt im Tourismusbüro von Überlingen vor einem Computer. Aber wenn sie von dem Unglück redet, läuft die Gänsehaut über den Rücken, die Stimme wird dünn.
Es hätte nicht passieren müssen. Es müsste nicht sein, dass die Menschen in Überlingen im Kopf Bilder mit sich herumschleppen, die sie kaum verkraften können. Es müsste nicht sein, dass ihr hübscher kleiner Ort nun mit einer furchtbaren Tragödie verbunden wird, wo die Kirschen gerade geerntet sind und es jeden Abend ein Kurkonzert gibt, die Palmen an der Seepromenade so hübsch in Kübeln wachsen und die Ausflügler ihre Füße ins Wasser halten. Es müsste nicht sein, dass Sulfia Achemetowa jetzt mit rund 160 anderen Müttern, Vätern und Geschwistern aus Baschkirien auf einer Wiese oberhalb von Überlingen steht und eine traurige Kapelle spielt, in irgendeinem Städtchen in einem Land, das Sulfia Achemetowa kaum kennt, und dass sie von irgendeinem Ministerpräsidenten Beileidsbekundungen zu hören bekommt in einer fremden Sprache. Weil sich die Katastrophe jährt und es eine Trauerfeier gibt mit Musik und Blumenkränzen. Es müsste nicht sein.
Die Flugschreiber der abgestürzten Maschinen wurden ausgewertet, Experten haben den Fall untersucht. Es ist alles klar. Die Schweizer Flugsicherung Skyguide hat zu spät reagiert. Die Lotsen arbeiteten in der Routinebesetzung, es war nicht mehr los als sonst auch. Trotzdem hat der zuständige Fluglotse die Tupolew erst 43 Sekunden vor dem Unglück angewiesen, zu sinken. Das haben die Ermittlungen der Braunschweiger Bundesstelle für Flugunfalluntersuchungen (BFU) ergeben. Nach Angaben von Skyguide hat der russische Pilot erst mit Verzögerung den Sinkflug eingeleitet. Doch selbst wenn die Besatzung sofort den Befehlen gefolgt wäre, so wären sich die beiden Flugzeuge gefährlich nahe gekommen. Auch hat der Lotse nicht versucht, mit der Frachtmaschine Kontakt aufzunehmen. Der Lotse hat Fehler gemacht.
Natürlich kann Geld kein Menschenleben ersetzen. Aber wenn einer als Anwalt auf Sammelklagen und Entschädigungsforderungen spezialisiert ist, dann horcht er auf, wenn er vor dem Fernseher sitzt und die Katastrophe in den Nachrichten kommt. Wenn einer Michael Witti heißt und schon den Entschädigungsfonds für Zwangsarbeiter durchgefochten hat, dann ahnt er, dass auch dies ein Fall für ihn werden könnte, als am 2. Juli 2002 die Aufnahmen vom Unglücksort über den Bildschirm ziehen, Aufnahmen von der größte Katastrophe der zivilen Luftfahrt in Deutschland, wie es heißt.
Im vergangenen Oktober ist Michael Witti mit einem Kollegen und einer russischen Dolmetscherin in die baschkirische Stadt Ufa am Ural geflogen. Er hat mit den Eltern der toten Kinder geredet. Auch andere Staranwälte haben sich beworben, Michael Witti hat das Mandat bekommen. Jetzt sitzt der 46-Jährige in seinem Berliner Büro in einem eleganten Obergeschoss weit über der Stadt. Das Büro hat Witti neu bezogen, der Raum riecht unbenutzt und leer. Nur vier Bücher zum Thema Luftfahrtsrecht stehen auf der Tischplatte, sonst nichts. Die Bücher sehen aus wie eine Drohung. Geld kann kein Menschenleben ersetzen. Aber Witti wird sie durchkämpfen, die Millionen für die Hinterbliebenen.
Zahlen soll nicht nur die Schweizer Flugsicherung Skyguide. Auch die deutsche Bundesregierung und die Schweizer Regierung werden Geld nach Baschkirien überweisen müssen, sagt der Anwalt. Hintergrund ist der fehlende Staatsvertrag zur Regelung des Luftraums zwischen den beiden Ländern. Seit 40 Jahren kontrolliert die Schweiz den Luftraum über Schwarzwald und Bodensee, obwohl das Gebiet eigentlich in deutscher Zuständigkeit liegt. „Die Schweiz darf das nicht, es gibt keine rechtliche Grundlage dafür.“ Michael Witti lehnt sich zurück, ruht jetzt ganz in seiner juristischen Überlegenheit. Er wird das schaffen mit dem Geld für Sulfia Achemetowa.
Einfach wird es nicht. Bislang haben sich die beschuldigten Parteien äußerst zurückhaltend gezeigt, was ihren Entschädigungswillen angeht. Witti hat deswegen einen Fonds vorgeschlagen. Nicht nur, weil er sich auskennt mit Fonds. Nicht nur, weil die Hinterbliebenen damit schneller an ihr Geld kommen. Auch, weil eine politische und wirtschaftliche Brisanz in dem Fall steckt.
Das liegt an dem fehlenden Staatsvertrag. Weil er aussteht, ist auch den Flugverkehr über dem Drehkreuz Zürich nicht geregelt. Für die Schweiz hängen daran große wirtschaftliche Interessen, für Deutschland soll der Staatsvertrag gute Beziehungen zum Nachbarland sichern. Noch wird darüber zwischen den beiden Ländern verhandelt.
Wenn nun aber Sulfia Achemetowa und all die anderen Hinterbliebenen der Flugzeugkatastrophe vom Bodensee mit ihren Schadensersatzforderungen einzeln vor die Gerichte ziehen, wird es eine Menge Urteile geben. Die Gerichte werden dann auch Feststellungen treffen müssen, die den Luftverkehr betreffen. Das könnte sehr schlecht sein für Deutschland und die Schweiz. Sie hätten keinen Einfluss mehr auf ihren Vertrag. Sie sind also interessiert, dass die Sache die Gerichte nicht zu sehr beschäftigt. Mit Wittis Fonds ginge das. Der Rechtsanwalt lächelt. Ein Lächeln, das nichts unterschlägt. „In der Öffentlichkeit heißt es dann, die Parteien helfen den armen Leuten schnell und unbürokratisch. In Wahrheit ist es so, dass sie Schecks ausstellen, damit die armen Leute nicht ihr enormes wirtschaftliches und politisches Interesse stören“.
Ein Dreivierteljahr jedoch hat die Schweizer Regierung jedes Gespräch mit Witti abgeblockt. Deswegen hat er Anfang Juni vorsorglich eine Klage eingereicht. Vor einer Woche haben die Schweizer Regierung, das deutsche Verkehrsministerium, Skyguide und die Versicherung der Flugsicherungsfirma nun immerhin das Vertragswerk für einen Fonds unterzeichnet. Nun geht es nur noch um die Höhe des einzuzahlenden Geldes. „Sie werden verstehen, dass wir Stillschweigen darüber bewahren müssen“, sagt der Sprecher des Bundesverkehrsministeriums am Telefon. „Die Zahlen sind vorerst nicht öffentlich“, heißt es bei Skyguide. 10 Millionen US-Dollar möchte jede Partei einzahlen, heißt es unter der Hand.
Witti will mehr. Er fordert 1,5 Millionen US-Dollar für jedes Opfer. Er hat sich mit dieser Forderung an anderen Unglücken orientiert. An den Summen, mit denen die Hinterbliebenen der Gondel-Katastrophe von Cavalese entschädigt wurden oder die Opferfamilien des Concorde-Absturzes. 1,5 Millionen US-Dollar ist eine Menge Geld für die einfache Beamtin im Staatsdienst Sulfia Achemetowa. Sie könnte auch mit weniger gut auskommen in ihrer Heimat in Baschkirien vor dem Ural.
Aber Witti in seinem neuen, leeren Büro sagt: „Die Russen dürfen sich jetzt und für die Zukunft nicht selbst zu Opfern zweiter Klasse machen.“ Es gehe ihm in diesem Fall um die Festschreibung von Standards. So muss ein Spezialist für Entschädigungsforderungen wohl denken. Sulfia Achemetowa denkt an ihr totes Kind. Sie steht am Bodensee mit den Füßen im nassen Gras und weint.