piwik no script img

Archiv-Artikel

Die Niedriglöhner

„Ich lebe an der Armutsgrenze, mit Fernsehen und Telefon“

Fußböden. Fußböden machen den großen Unterschied. „Sie ahnen gar nicht, wie unterschiedlich man auf Holz, auf Fliesen oder auf Stein steht“, sagt Jürgen Schonemann, „aber nach acht Stunden spürt man das.“ Schonemann, 58 Jahre alt, ist Spezialist für langes Stehen. Und unauffälliges Beobachten. Als Wachmann im Museum wird man gewissermaßen fürs Herumstehen bezahlt, und das ist gar nicht so einfach. „Ein Job nur für ruhige Leute mit einer gewissen Ausstrahlung“, meint Schonemann. Und eine der am schlechtesten entlohnten Tätigkeiten überhaupt.

Die meisten Angestellten in dem privaten Wachschutzunternehmen, bei dem er beschäftigt ist, bekommen 5,50 Euro brutto die Stunde plus Zuschläge für Sonn- und Feiertagsarbeit. Schonemann erhält etwas mehr als 6 Euro, er ist zum Aufsichtsleiter in einem kleinen Museum aufgestiegen. Nach offizieller Lesart bringt er mit seinen 980 Euro netto einen Armutslohn nach Hause – weniger als die Hälfte des Durchschnittsverdienstes.

Doch Armut und Elend strahlt der grauhaarige Wachmann, der stets in Jackett, weißem Hemd, Krawatte und mit Funkgerät seinen Dienst versieht, nicht aus. „Ohne den Job hier würde ich doch nur zu Hause herumsitzen“, sagt er.

Dass er seine Arbeit nicht als Billigjob abqualifiziert, ist eine Frage seiner Biografie – und seiner Alternativen. Schonemann ist studierter Finanzökonom. Er war einmal Fachdirektor in einem Industriebetrieb in der DDR. Nach der Wende war damit Schluss. Es folgten Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe. Schonemann entschloss sich, im Wachschutz anzufangen. „Ich wollte was mit Menschen machen.“

Die ersten drei Wochen Stehen in einem großen Museum waren die Hölle, „jeden Abend steckte ich meine Füße in ein Fußbad“. Doch eine gleichaltrige Kollegin hielt durch. „Da war ich bei meinem Stolz gepackt, ich dachte, wenn die das schafft, schaffst du das auch.“

Seine Ehefrau bezieht Arbeitslosenhilfe und geht demnächst in Rente, die Kinder sind aus dem Haus, die Miete ist günstig. „Keine Auslandsreisen, nicht rauchen, nicht trinken und nur ein kleines, altes Auto“, so umreißt Schonemann seinen Lebensstandard, „so kommen wir hin.“ Bei jüngeren Kollegen sei das anders. Viele der Wachleute seien allein stehend, eine Familie könne man mit dem Verdienst nicht ernähren. Manche schieben abends noch eine zweite Schicht in einem anderen Museum.

Für Schonemann ist die Arbeit kein Abstieg, sondern eine letzte Chance. „Bis zur Rente möchte ich meinen Job noch behalten.“ Deswegen will er auch seinen richtigen Namen lieber nicht veröffentlicht sehen.

Doch auch bei niedrigem Lohn kommt es auf das Drumherum an. Schonemann zum Beispiel ist ein bisschen stolz auf seinen „menschlichen Führungsstil“. Seine Wachleute können immerhin 20 Meter hin- und herlaufen, wenn kein Publikum da ist, dürfen sie sich auch mal auf einen Hocker setzen. Bei der gefeierten MoMA-Ausstellung hingegen, da verharrten die Wachmänner „acht Stunden auf einem Fleck. Das ist hart.“ BARBARA DRIBBUSCH

Wenn man hören will, wie es mit diesem Land bergab geht, dann muss man nur die Taxifahrer fragen. Deutschland geht den Bach runter, sagt Taxifahrer Matthias S. Wenn es den Menschen ans Geld geht, beginnen sie zu sparen. Beim Taxi fängt die Sparsamkeit an. Plötzlich steigen sie in den Bus, sie klettern aufs Fahrrad oder sie fangen an zu laufen. S. legt den schweren Ellenbogen auf den Stehtisch und lehnt sich vor.

Matthias S. ist 59 Jahre alt, früher hat er als Mechaniker bei Daimler Benz gearbeitet. Bis er sich wegen einer Dieselallergie die ganze Haut zerkratzt hat. Jetzt fährt er seit 22 Jahren im Taxi durch Berlin und kriegt mit, wie alles schlechter wird. Es gibt Tage, da sitzt S. elf Stunden hinterm Lenker und am Ende kommt er mit 20 Euro nach Hause. Nicht immer ist es so wenig. Aber mehr als 800 Euro netto im Monat sind nicht drin, sagt S. Und das bei einer 50-Stunden-Woche.

„Es wird immer schwieriger, auf sein Geld zu kommen“, knurrt S., er hustet, nimmt einen Schluck aus der Tasse. Im Hinterzimmer des Taxibetriebes Schütz in Berlin-Wedding gibt es eine Kaffeemaschine und einen großen Aschenbecher aus Keramik. Rauchen und Kaffeetrinken hilft den Gang der Entwicklungen zu überstehen.

Ein Kollege kommt rein. Er ruft: „Hör auf zu jammern!“ Die Berliner Taxifahrer sind selbst schuld, dass sie weniger verdienen, schimpft er. Sie stehen mit ihrem Taxi am Flughafen Tegel, meint er. Sie stehen und stehen. Sie lesen Zeitung und spielen Karten mit den andern Fahrern. „Aber so funktioniert das nicht mehr!“, ruft der Kollege. „Man muss sich kümmern“, er haut wieder ab.

„Es wird schwerer, auf sein Geld zu kommen – mehr als 800 netto sind nicht drin“

Matthis S. nimmt noch einen Schluck. Er jammert nicht. Er steht nicht am Flughafen, er spielt auch nicht Karten. Er beobachtet nur, wie die Dinge sich ändern. Und der Mann vom Berliner Taxiverband sagt es doch auch: 3 Euro die Stunde seien beim Taxifahren in Berlin der Normalfall geworden.

S. erzählt: Die goldenen Zeiten kamen nach dem Mauerfall. Immer mehr Leute strömten in die Stadt, sie hatten Geld in den Brieftaschen und fuhren im Taxi durch die Stadt. Das ist jetzt vorbei. Es scheint, als hätten die Menschen mit den gefüllten Brieftaschen ihr Interesse verloren. Keiner hat noch was übrig für Luxus. „Und selbst nach der Weihnachtsfeier zahlen die Chefs ihren Mitarbeitern nicht mehr das Taxi nach Hause“, meint S., er schnaubt. Wenn er selbst nicht vor ein paar Jahren eine kleine Erbschaft gemacht hätte, wüsste er nicht, wie es überhaupt gehen sollte. Er redet weiter.

Weil sich die Wirtschaft im Land nicht erholt, gibt es immer mehr Taxifahrer. Matthias S. erlebt es ja jeden Tag. Die arbeitslosen Baggerfahrer kommen, die Pleite gegangenen Lkw-Fahrer, die Leute, die sonst nicht wissen, wohin. All diese Menschen setzen sich in ein Auto und machen ihm jetzt Konkurrenz.

„Dabei haben die meisten überhaupt keine Ahnung von Dienstleistung!“, sagt S. Er schlägt die Arme übereinander und schimpft. Die wenigsten dieser Neueinsteiger hätten begriffen, dass sie jetzt nicht mehr Schweinehälften oder Steine durch die Gegend fahren, sondern Menschen, die man nett behandeln muss. Fahrgäste, die einen guten Service verdienen. Auch wenn sie betrunken sind. Auch wenn sie mit nassen, stinkenden Hunden kommen. „Dabei muss man doch heute froh sein für jeden, der kommt!“, findet S. KIRSTEN KÜPPERS

Sie liebte diese Düfte, fühlte sich verwöhnt und fand es gut, wie sich andere Gedanken über ihr Aussehen machten. Als Kind ist Claudia Ebert (Name geändert) wahnsinnig gern zum Friseur gegangen. Nach einer abgebrochenen Ausbildung zur Kindergärtnerin erfüllte sie sich mit 18 ihren Kindheitstraum und machte im Rahmen einer Erwachsenenqualifizierung eine Friseurlehre.

Vor fünf Jahren hat die 32-Jährige in einem damals gerade eröffneten Friseurladen in Berlin-Friedrichshain angefangen. An fünf Tagen die Woche schneidet sie zwischen zehn und dreizehn Kunden die Haare. „Vom Sozialhilfeempfänger bis zur Ärztin“, eine Mischung, die ihr gefällt. Auch die vier Kolleginnen und Kollegen sind nett und etwa in ihrem Alter. Alles sehr schön, nur nicht der Verdienst.

1.021 Euro brutto bekommt sie dafür, 790 Euro netto bleiben übrig. Plus etwa 200 Euro Trinkgeld. Dafür steht sie von morgens halb zehn bis abends halb neun im Geschäft.

Claudia Ebert kommt über die Runden, weil sie sich auf das absolut Notwendige beschränkt. Miete, Essen, Kleidung, 75 Euro monatlich für eine private Rentenversicherung und, na ja, Zigaretten. „Für viel mehr reicht das Geld nicht“, sagt die junge Frau mit den langen blonden Haaren. „Ich habe meine Ansprüche drastisch zurückgeschraubt.“

„Keine Reisen, nicht rauchen und nur ein altes Auto – so kommen wir hin“

Sie wohnt in einer „spartanisch eingerichteten“ Wohnung in einem DDR-Plattenbau. Nicht gerade ihr Traumschloss, doch die Miete ist günstig. Auch beim Essen guckt sie aufs Geld. „Ich gehe jeden Tag zum Vietnamesen. Das ist billig, aber auf Dauer ungesund.“ Sie hat kein Handy, benutzt Energiesparlampen, stellt den Kühlschrank auf Stufe 1. „Da ist eh nicht viel drin.“ Seit Jahren trägt sie „die gleichen Klamotten“ und als „zum Teil bekennender Schwarzfahrer“ kann man seine Kosten ja auch ein bisschen senken.

Restaurantbesuche, Kino, Theater, Schwimmbad oder Yoga gegen die Rückenschmerzen nach einem langen Tag im Stehen sind Luxus. Nur ab und an gönnt sie sich „ein schönes exzessives Wochenende für 50 bis 80 Euro“. Ihren sozialen Status beschreibt sie so: „Ich lebe an der Armutsgrenze, mit Fernsehen und Telefon.“

Würde sie arbeitslos werden, bekäme sie in etwa den Sozialhilfesatz. Dabei ist Claudia Ebert schon jetzt nur am Rechnen. „Das nervt und ist schon frustrierend“, sagt sie. Doch sie klagt nicht. „Ich kann gut mit Geld umgehen.“ Sie ist froh, überhaupt Arbeit zu haben. Noch dazu eine, die ihr Spaß macht. „Das motiviert mich.“ Anderen Menschen gehe es nicht nur schlechter als ihr, sondern zum Teil richtig „beschissen“. Zum Beispiel jenen, die keine Arbeit haben und stattdessen Alkohol- oder Drogenprobleme.

Claudia Ebert kann sich einschränken, weil sie alleine lebt. An Kinder will sie nicht mal denken. Manchmal wünscht sie sich, weniger vernünftig zu sein und auf Pump in den Urlaub zu fahren, wie es andere tun. Vor drei Jahren war sie eine Woche an der Ostsee, seitdem ist sie nicht mehr weggefahren. „Ich kann nicht mit Schulden leben“, sagt sie. Sie brauche diese gewisse Sicherheit. Nur an einem, sagt sie und lacht, kann sie sparen, ohne dass es ihr wehtut. Am Geld für den Friseur.BARBARA BOLLWAHN