: In die Erde eingegraben
Der Schwerkraft widerstehen, Grenzen zelebrieren und wieder verfließen lassen: Die TänzerInnen des Grand Théâtre de Genève erproben bei den Hamburger Ballett-Tagen neue Körper-Raum-Dialoge
von MARGA WOLFF
Wie viele Gesichter vermag der Körper im Tanz zu offenbaren? Drei – und sehr verschiedene –Daseinsweisen zeigte er beim Gastspiel des Ballet du Grand Théâtre de Genève zu den 29. Hamburger Ballett-Tagen. Und nachdem am Vortag der Choreografennachwuchs im Wettbewerb um den Prix Dom Pérignon einen autoagressiven Körper vorgestellt hatte, der über weite Strecken dem Zuschauer den Rücken zukehrte, feierten die Tänzer der Schweizer Compagnie in Choreografien von Mark Morris, Saburo Teshigawara und Giorgio Mancini Körper, die im Tanz alle Sinne der Welt zuwandten.
Dem Applaus nach zu urteilen, war das Hamburger Publikum im voll besetzten Opernhaus ausgehungert nach einem solchen Tanz. Da ist der Körper, der sich tanzend der Schwerkraft unterwirft, um dann wieder in Spiralen und Drehungen vertikale Achsen zu erkunden. Dann ist da der Körper, der Energien formt und fließen lässt, nach außen wie nach innen. Mark Morris‘ Choreografie Pacific zeigte amerikanischen Modern Dance wie aus dem Bilderbuch: Ästhetisch rein und doch anmutig lebendig, dynamisch und mit klaren Gesten vor monochromem Hintergrund, erst gelb, dann rot, dann himmelblau. Männer und Frauen tragen lange, luftig fliegende Röcke. Damit gleichen sich ihre Bewegungen an. Die Frauen stellt Morris auf Spitze, ohne jedoch, wie William Forsythe, dieser Kunst neue Dimensionen abzugewinnen. Dennoch wirkt die Choreografie des Amerikaners angenehm zeitlos.
Das gilt auch für Saburo Teshigawaras Stück Para-Dice, wenngleich Zeit einer der wichtigsten Parameter in der Arbeit des japanischen Choreografen ist. Von der Auflösung von Widerständen, von der Überwindung von Grenzen erzählt sein Tanz. Ein Paradoxon. Doch genau darin liegt das Phänomenale seiner Kunst. Teshigawara hatte sich acht Stunden in die Erde eingraben lassen, um anschließend die Konsistenz der Luft zu spüren. Er hat sich in Scherben gewälzt, bis die Spannung seiner Haut sich löste.
Das hört sich alles nach Askese an. Ist es aber nicht. Im Gegenteil. Es ist eine Transzendenz von Bewegung. Wundervoll ist es anzuschauen, wie die Tänzer des Genfer Balletts sich dieses Körperbewusstsein angeeignet haben. Wie sie die Luft zu ihrem Partner machen, ihre hochschnellenden Arme feine Strahlen in den Himmel senden, bis der schabende Elektrosound anschwillt und die Atmosphäre verdichtet. Dann springen die Tänzer paarweise, schleudern mit den Armen die Energie in den Boden, die sie mit jedem Sprung erneut der Erde entreißen.
Auch Giorgio Mancini, künstlerischer Direktor der Compagnie, begibt sich in seiner Choreografie Words No Longer Heard auf die Suche nach paradiesischen Zuständen, die er, sich auf die Mythologie berufend, in einem Urzustand des Geschlechtlichen vermutet, der die Trennung in männlich und weiblich nicht kennt. Aber vorerst sind es ausschließlich Männer, die wie eine Horde Faune in schummrigem Licht umeinanderflitzen, Arme und Hände vor dem Geschlecht abgespreitzt. Zwei von ihnen werden sich später finden und doch nicht eins werden können. Im Ausdruck ihrer gestählten Tänzerkörper erinnern sie an Krieger der Antike, die von ihrem steinernen Relief herabgestiegen sind. Und doch verzichtet Mancini nicht auf die Präsenz der Frauen. In kindlichen, weißen Trikots – ein Arm ist nackt, die Symbolik ist überdeutlich – wirken sie ganz und gar asexuell, vollenden jedoch das männlich geprägte Bild, das Mancini von homoerotischer Liebe und der Sehnsucht nach dem „dritten“ Geschlecht entwirft.