Don‘t stop till you get enough

Gute Hausgeister bleiben im Dienst: Freunde, Kollegen und Verwandte feierten am Berliner Ensemble George Taboris 90. Geburtstag. Und während alle gerührt von der Vergangenheit sprachen, blickte einer in die Zukunft: George Tabori selbst

VON SIMONE KAEMPF

Der Dichter macht, was man von ihm erwartet. Langsam steigt er auf das Podest im Rangfoyer, auf das man ihn zuvor schon zwei Stunden lang mit Worten gehoben hat. Ein Moment zum Auskosten, für alle Seiten: für das Publikum, das ihm endlich die Ehre erweisen will, und für George Tabori, der jetzt ohne große Umwege über das zu reden beginnt, was er für wichtig hält: sein nächstes Theaterstück, die Figuren, um die es gehen soll, die Zukunft also, während sich alles um ihn herum an die Vergangenheit erinnert.

George Tabori ist 90 Jahre alt geworden, und ein Blick in sein Gesicht macht klar, warum in diesen Tagen so viel von seiner Vergangenheit die Rede ist. Es ist der Blick in das Gesicht eines Mannes, an dem die Extreme nicht glatt geschliffen sind, von dem man hören will, was er durchfühlt hat, so schmerzhaft es auch sein mag. Ein Gesicht, das verständlich macht, warum seine Umgebung weitererzählt, was sie mit ihm erlebt hat: weil es sie zutiefst berührt hat.

Eine Matinee, eine Premiere und als Finale eine Geburtstagsgala: viel Platz für Reden und Erinnerungen von Therese Affolter, Senta Berger, die viel mit ihm arbeitete, Ursula Höpfner, seine Ehefrau und Schauspielerin am BE, Hanna Schygulla, Walter Schmidinger und unzähligen anderen. Theaterleute, mit denen er ab 1969 zusammenarbeitete, als er nach 20 Jahren in Amerika wieder nach Europa kam, um am Berliner Schiller Theater „Die Kannibalen“ zu inszenieren. Das Stück über KZ-Insassen, die einen Mithäftling verspeisen, ist seinem Vater gewidmet, der in Auschwitz ums Leben kam, während der Sohn Tabori die Nazizeit in Istanbul, Kairo und Palästina überlebte. Schlüsselerlebnisse einer Biografie, in der Kunst und Leben fest miteinander verknüpft sind.

Die Kraft des Weitermachens: Sie dynamisiert Taboris Arbeit seit Jahrzehnten und hat ihre Wirkung am Berliner Ensemble noch einmal neu entfaltet. Nach dem Start von Claus Peymann als Intendant im Sommer 1999 summierten sich die Ankündigungen neuer Stücke von Thomas Brasch oder Volker Braun. Sie blieben Papierbeschwörungen. Tabori hingegen entwickelte sich zum Namen für Kontinuität am Haus. Und wenn phasenweise jede neue Inszenierung und jedes neue Stück von ihm als endgültig letztes angekündigt wurde, war davon schon bald nicht mehr die Rede. Gute Hausgeister bleiben im Dienst.

Tabori ist Kapital, mit dem das Theater wuchern kann, und seine Rolle am Berliner Ensemble nimmt alttestamentarische Züge an. „Am Anfang war das Wort.“ Dieser göttliche Satz vom ewigen Anfang spricht Tabori selbst in seinem Stück „Purgatorium“, das Andrzej Woron als Geburtstags-Premiere in der Probebühne inszeniert hat. Stalin, Roosevelt, Churchill, Sarah Bernhard, Marcel Proust und Tolstoj müssen sich im Fegefeuer gemeinsam die Zeit bis zur Entscheidung über Himmel oder Hölle vertreiben. Ein spielerisch gehaltener Abend, an dem viele Tabori-Motive aufblitzen und die Spannung zwischen Geschichte und Gegenwart schwebend gehalten wird.

Er war nur das Vorspiel zum folgenden großen Geburtstagsabend, der sich ganz aus dem Geist der familiären Bande nährt. Auf Stuhlreihen haben sich die Schauspieler auf die große Bühne gesetzt, um nacheinander nach vorne zu treten. Einige sehr gefasst, andere mit einem Ton, der den unbedingten Wille zur Feier suggeriert. Die Fröhlichkeit schlägt in Wehmut um, als Ignaz Kircher noch einmal einen Monolog aus „Mein Kampf“ spielt. Szenen aus all seinen wichtigen Inszenierungen werden auf der Leinwand gezeigt. All das kommt nicht mehr zurück, und die Tränen auf der Bühne sind auch Abschiedstränen. Immer wieder werden Taboris Hände geküsst. Seine Rolle als Familienpatriarch erreicht ihren skurrilen Höhepunkt, als Claus Peymann wie ein reumütiger Schuljunge vor ihn tritt, der sich Strafaufgaben abzuholen hat. Und Tabori? Für einen 90. Geburtstag kann man sich keinen unvorteilhafteren Ort vorstellen als den Ohrensessel, in den man ihn gesetzt hat. Zurückgelehnt sitzt er darin wie jemand, der die Szenerie genießt und gleichzeitig – über dieses Sitzmöbel – alle Projektionen mit großzügiger Souveränität von sich abprallen lässt.