: Kasachisches Roulette
Junge Russlanddeutsche gelten als besonders gewaltbereit. Belegen lässt sich das nur schwer. Viele haben sich erfolgreich integriert – in einem Land, das immer weniger mit ihnen anzufangen weiß
VON MAREKE ADEN
Im Leben des Nicolaj Kuzelev gibt es einen schönsten Tag und die drei schrecklichsten Monate. Der schönste Tag war sein erster in Deutschland. Am Kaspischen Meer hatte der 17-jährige Aussiedler nur Verheißungsvolles über Deutschland gehört. Er kam nach Hamburg, und Hamburg war tatsächlich schön und grün und reich. Am zweiten Tag begannen die drei schrecklichsten Monate.
Er bezog eine Bleibe in einem Wohnschiff in Altona, um ihn herum wohnten viele Einwanderer aus vielen Ländern, provisorisch abgetrennt durch dünne Wände. Nachts hielten ihn Lustschreie von nebenan wach. Seine Eltern hatten keine Arbeit, die Familie tat sich mit der deutschen Sprache schwer. „In Kasachstan haben die Leute alle gesagt, es sei kein Problem, in Deutschland eine Wohnung oder einen Job zu finden. Sie haben vergessen zu sagen, dass man vor 1995 hätte kommen sollen“, erzählt Nicolaj Kuzelev.
Der junge Russlanddeutsche macht bald Abitur und spielt in einer deutschen Mannschaft Fußball. Er hat es geschafft. Obwohl Nicolaj eigentlich kriminell sein müsste – statistisch gesehen. Nach Joachim Walters Beobachtungen zählt er zu der Personengruppe, die überproportional häufig kriminell wird. Joachim Walter ist Leiter der Justizvollzugsanstalt Adelsheim in Baden-Württemberg, dem klassischen Rücksiedlerland. 80 Männer mit russischem Akzent und deutschem Pass verbüßen in seiner Anstalt eine Jugendstrafe, das sind 15 Prozent der Insassen und zwei- bis dreimal so viele, wie ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung ausmacht. Die meisten der 80 sind wie Nicolaj Kuzelev mit 15 Jahren nach Deutschland gekommen. Jungen in dem Alter hätten oft Probleme und brauchten Hilfe, selbst wenn sie gesetzestreu lebten, sagt Walter. „Wenn man zusätzlich in Migration lebt, ist die Gefahr, ins Gefängnis zu kommen, sehr groß.“
Nun sind 80 junge Männer nicht unbedingt eine gute Grundlage für eine fundierte Untersuchung, das sieht auch Walter so. Das Problem ist nur, dass niemand näher dran ist, wenn es um die Bewertung von Kriminalität von jugendlichen Russlanddeutschen geht. Weder gibt es genaue Zahlen, wie viele Russlanddeutsche in Deutschland leben, noch wie viele polizeilich auffällig werden. Denn Statistiker erfassen Straftäter nach Nationalitäten, und die Pässe der Russlanddeutschen sind so deutsch, wie Pässe nur deutsch sein können.
Der Soziologe Rainer Strobl von der Universität Bielefeld hat es deswegen mit klassischer Dunkelfeldforschung versucht und Schüler befragt. Er ging mit Fragebögen in nordrhein-westfälische Schulen, um herauszufinden, ob russlanddeutsche Jugendliche eine andere Mentalität haben als deutsche. Er fand Überraschendes heraus: dass es keinen signifikanten Unterschied gibt. Zwar seien Russlanddeutsche traditioneller, was Geschlechterrollen betrifft, und stärker an ihre Familien und einen Ehrenkodex gebunden. Das aber habe nicht die vermuteten kriminellen Auswirkungen.
Strobl berichtet auch, dass das Ergebnis seiner Studie „immer wieder eine gewisse Unzufriedenheit“ auslöse. Dass er den Fragern noch mal laut diktieren müsse: „Ja, Russlanddeutsche liegen tatsächlich im statistischen Mittelfeld.“ Die Frager würden dann entweder schweigen oder antworten: „Ja, aber bei uns ist das anders.“
„Bei uns“, das ist zum Beispiel in Marzahn. Zwischen den nun rosa gestrichenen ehemaligen DDR-Wohnblocks steht das „Schalasch Ost“, Treffpunkt für rund 20 Russlanddeutsche. Sie sprechen nur russisch, weil ihnen das nach nur sechs Monaten Sprachkurs Deutsch leichter fällt. Gemeinsam ist ihnen zudem, dass sie keine Lehrstelle finden. Von anderen Jugendlichen unterscheidet sie eines, sagen sie: „Wir können mehr Wodka trinken.“ Zwar wären sie mit ihren Eltern lieber nach New York oder Australien ausgewandert. Aber Gewalt? Nein, Gewalt gebe es nicht unter ihnen.
Vielleicht lügen sie. Auch der der Soziologe Rainer Strobl hat dies in Betracht gezogen. „Niemand erzählt gerne von seiner eigenen Delinquenz“, so Strobl. Allerdings würde er die Lügner mit statistischen Wahrscheinlichkeitsberechnungen erwischen. Wer in einer kriminellen Subgruppe lebe, werde auch schneller Opfer von Gewalttaten. „Wer prügelt, wird auch verprügelt“, sodass auffiele, wenn es in einer Schulclique nur Opfer, aber keine Täter gäbe. Das sei aber nie aufgefallen.
Bleibt die Frage, wie es sein kann, dass Strobl nur durchschnittliche Gewalt unter jungen Russlanddeutschen ermitteln kann, aber Gefängnisleiter Joachim Walter überdurchschnittlich viele betreuen muss. Eine Erklärung von Walter ist, dass junge Leute, die in Osteuropa einen Teil ihrer Jugend bewusst verbracht haben, die Regeln des Systems dort stärker verinnerlicht hätten. Sie hätten gelernt, der Polizei gründlich zu misstrauen und am besten immer alles abzustreiten. „In Deutschland gilt man dann aber verstockt“, so Walter – und kassiert wesentlich schneller eine Haftstrafe. Rainer Strobl erklärt sich die Tatsache unter anderem damit, dass Alternativen zur Haft für Russlanddeutsche oft nicht in Frage kämen. Antigewaltkurse etwa, die das Jugendgericht gerne statt Knast verordnet, werden auf Deutsch gehalten. Hinzu kommen allgemeine Befunde, wie Fehlerquellen bei der Dunkelfeldforschung, die mit ihren an Schulen verteilten Fragebögen zum Beispiel nur Schüler erreichen – und nicht die Schwänzer oder Abbrecher.
Nur bei einem Punkt sind sich alle Experten einig: Sie betonen, dass das Problem bisher eigentlich keins sei, aber bestimmt noch eins werde.
Bisher waren Russlanddeutsche eine Einwanderergruppe, wie sie sich Deutschland nur wünschen konnte. Qualifizierte Leute, die in Deutschland in Demut jeden Job annahmen. Gerade weil sie wussten, dass es ihnen in der ehemaligen Sowjetunion wirtschaftlich nicht so gut gehen würde, klagten sie nicht über Dequalifizierung. Ingenieure wurden zu Hausmeistern, Dozentinnen zu Bürohilfen, Goldsucherinnen zu Putzfrauen. Ihren Kindern dagegen predigten sie, Bildung sei der Weg zurück in die Schicht, die sie mit der ehemaligen Sowjetunion verlassen hätten. Die Kinder waren dadurch mit dem typischen Ehrgeiz der zweiten Generation geprägt, von dem Einwanderungsländer profitieren. Die 20-jährige Russlanddeutsche Helene Unger zum Beispiel studiert Chemie und strebt eine Promotion an, obwohl sie nicht davon überzeugt ist, dass ihr das Spaß machen wird. Aber sie hat ein großes Ziel im Leben: ihren Eltern hier ein Haus zu bauen, genau wie jenes, das sie in Kasachstan verlassen haben. Also arbeitet und lernt sie fleißig.
Seit Mitte der 90er-Jahre wandern jedoch viele Aussiedler nicht wegen ihres Bewusstseins für ihre deutsche Kultur ein, sondern aufgrund einer wirtschaftlichen Notlage. Oft sind sie weniger qualifiziert, haben zudem eine Gesellschaft ohne Normgefüge erlebt, als der Kommunismus in ihren ehemaligen Heimatländern zusammenbrach. Und sie kommen heute in ein Land, das immer weniger mit ihnen anzufangen weiß und Sprachkurse hauptsächlich für eine Belastung des Finanzhaushalts hält. Auch wahltaktisch motiviertes Interesse von Parteien können Aussiedler nicht auf sich ziehen. Den Konservativen gelten Aussiedler als „Russen“, den für Zuwanderer grundsätzlich engagierten Linken jedoch als notorische CDU-Wähler.
Junge Russlanddeutsche, die die Erfahrung machen, dass sie nicht erwünscht sind, ziehen sich häufig in eine hermetische Cliquenwelt zurück. Dort haben sie Chancen auf eine Karriere – eine kriminelle. „Wir produzieren Loser par excellence“, sagt Gefängnisleiter Walter. Deutschland hat sich selbst ein neues Problem geschaffen.